Was Deutschland im Jahr 2006 erlebte, spielte sich in Schweden bereits zwölf Jahre zuvor ab: ein Sommermärchen, das ein ganzes Land für wenige Wochen in Atem hielt. Denn als die schwedische Fußball-Nationalmannschaft der Herren am 19. Juni 1994 gegen Kamerun in die Weltmeisterschaft in den USA startete, hätten wohl nur die kühnsten Optimisten dem Team zugetraut, auch gut vier Wochen später noch im Turnier vertreten zu sein.

Schweden 1994: Ein Sommer zwischen Euphorie und Schockzustand

Doch der Sommer 1994 ist der Bevölkerung des skandinavischen Landes nicht nur aufgrund der wochenlangen Euphorie bei dauerhaftem Sonnenschein in Erinnerung geblieben, denn zur gleichen Zeit brannte sich auch ein schockierendes Ereignis für immer in die schwedische Geschichte ein: Am 11. Juni des Jahres schoss der damals 24-jährige Soldat Mattias Flink in Falun wahllos auf mehrere Personen und tötete dabei sieben Menschen.

Aus der Nazi-Szene über den Bosnienkrieg zur Mordkommission

In eben jenem sowohl im positiven als auch negativen Sinne denkwürdigen Sommer platzieren Pascal Engman und Johannes Selåker ihren ersten gemeinsamen Kriminalroman “Sommersonnenwende”, der sich auf zwei Hauptfiguren aufteilt. Auf der Seite der Polizei ist dies zum einen Kriminalkommissar Tomas Wolf von der Mordkommission in Stockholm, der – wie es sich in diesem Genre für skandinavische Ermittler gehört – mit gleich einer ganzen Wagenladung an persönlichen Problemen daherkommt. Erst vor wenigen Wochen ist Wolf nämlich aus dem Bosnienkrieg zurückgekehrt, wo er auf der Seite der UN im Einsatz war. Die schockierenden Erlebnisse im Osten Europas haben ihn nicht nur nachhaltig traumatisiert, auch das Familienleben hat offenbar stark unter seiner Auslandsmission gelitten – auch, weil Tomas in der Extremsituation eine leidenschaftliche Affäre mit einer bosnischen Frau angefangen hat. Und als wäre das noch nicht genug emotionaler Ballast, kann der Kommissar auch noch auf eine Laufbahn als Neonazi zurückblicken, von der er sich jedoch – im Gegensatz zu seinen zwei Brüdern – seit langem losgesagt hat.

Kindesentführerin, Diebin und Journalistin mit einer zweiten Chance?

Ähnlich problembehaftet startet auch die zweite Protagonistin in diese Geschichte, denn die Journalistin Vera Berg hat soeben die Flucht vor ihrem kriminellen Lebensgefährten angetreten und dabei auch noch dessen Sohn Sigge entführt, um ihn vor dem schlechten Einfluss seines Vaters zu schützen. Nicht die besten Voraussetzungen für einen reibungslosen Start in ihrem neuen Job in der Redaktion der “Kvällsposten” – zumal sie auch direkt unter besonderer Beobachtung steht, da sie früher bereits Tippgeberhonorare in die eigene Tasche abgezweigt hat.

Ein mühseliger und eher deprimierender Einstieg

Auf den ersten Blick also nicht unbedingt zwei Sympathieträger:innen, mit denen Pascal Engman und Johannes Selåker ihr Publikum konfrontieren, und so gestaltet sich der Einstieg in “Sommersonnenwende” auch ein wenig mühselig, weil man mit den beiden Hauptfiguren zunächst nicht so richtig warm wird. Beide sind viel mit sich selbst und ihren jeweiligen misslichen Situationen beschäftigt und wer sich einen direkt packenden Auftakt der Krimihandlung gewünscht hat, muss sich noch etwas gedulden, bis Tomas Wolf und Vera Berg unabhängig voneinander eher zufällig auf den gleichen Fall stoßen.

Zwei Hauptfiguren mit Anlaufschwierigkeiten – aber viel Potenzial

Dranbleiben lohnt sich jedoch, denn je mehr man über die beiden Charaktere erfährt und sie in ihren schwierigen und komplexen Lebenslagen begleitet, umso mehr entwickelt man ein Verständnis für ihr – häufig erratisches – Verhalten und ihre Motive. Es bleibt zwar eine gewisse Distanz zwischen Hauptfiguren und Leser:innen bestehen, dennoch erweisen sich Wolf und Berg zunehmend als interessante und unkonventionelle Persönlichkeiten, die noch eine Menge Potenzial für weitere Bände der Reihe mitbringen.

Sommermärchen und Serienmord – eine emotionale Achterbahn

Der große Trumpf dieses Romans ist jedoch die außergewöhnliche Atmosphäre von “Sommersonnenwende”, denn Engman und Selåker gelingt es auf herausragende Weise, die ganz besondere Stimmung des schwedischen Sommers von 1994 mit all seinen emotionalen Extremen einzufangen. Sei es die fast schon surreale Schönwetterperiode, die nicht nur die Ermittler:innen ins Schwitzen bringt und zugleich die schwedische Hauptstadt vor lautet Lebhaftigkeit regelrecht vibrieren lässt. Oder der erschütternde Amoklauf, der in eben jener Phase mit voller Wucht zuschlägt und ein ganzes Land in einen Schockzustand versetzt. Vor allem aber die Fußball-Weltmeisterschaft, die in vielen Szenen präsent ist und die Bevölkerung Schwedens von Spiel zu Spiel in einen immer größeren Rausch versetzt. Auch ohne dabei gewesen zu sein kann man durch die bildhaften Beschreibungen der Autoren mühelos eintauchen in ein Stockholm, das zu bersten scheint vor Menschen in gelben Fußballtrikots und das geschlossen zum Stillstand kommt, wenn die Übertragungen aus den USA das Land in Atem halten – nur um sich nach dem nächsten erfolgreichen Spiel in einer Eruption aus Glückseligkeit zu entladen. Gerade wer das deutsche Sommermärchen von 2006 noch selbst in Erinnerung hat, dürfte hier oft ein Gefühl wohliger Nostalgie verspüren.

Nicht immer hochklassiger, aber jederzeit intensiver Kriminalroman

Und eben dieser Kontrast von kollektiver Begeisterung und einem Land im Ausnahmezustand zu den grausamen Verbrechen in dieser Geschichte, bei denen sich zugleich die düstere Schattenseite Schwedens mit zum Beispiel einem gewaltigen Rassismusproblem zeigt, macht “Sommersonnenwende” zu einem nachhaltig beeindruckenden Leseerlebnis, bei dem zwar die einzelnen Zutaten im Genrevergleich nicht zwingend hervorstechen, in der sehr gut abgestimmten Mischung aber in einem packenden Kriminalroman resultieren, der Lust auf mehr macht – und das nicht nur wegen der clever gesetzten Cliffhanger auf den letzten Seiten.

Sommersonnenwende – Pascal Engman & Johannes Selåker
  • Autor: ,
  • Original Titel: Till minne av en mördare
  • Reihe: Tomas Wolf & Vera Berg
  • Umfang: 593 Seiten
  • Verlag: Ullstein
  • Erscheinungsdatum: 1. Juni 2023
  • Preis Broschur 17,99 €/eBook 14,99 €
Cover:
Charaktere:
Story:
Atmosphäre:
Gesamt:
8/10
Fazit:
Die Zusammenarbeit von Engman und Selåker ist mit den schwierigen Hauptfiguren und dem eher deprimierenden Einstieg in die Geschichte keine Liebe auf den ersten Blick, steigert sich aber vor allem dank der außergewöhnlich stark eingefangenen Atmosphäre zu einem packenden Kriminalroman.

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2 Antworten zu diesem Beitrag

  • Die Jahreszeit ist wirklich gut eingefangen worden. Das „rettet“ in meinen Augen das Buch und wertet es enorm auf.

    Berg ist wirklich keine Sympathieträgerin und nervt manchmal schon.
    Andererseits kann das auch den Charme eines Buches ausmachen.

    • Wenn ich nur die reine Krimihandlung betrachte hat mich das Buch auch nicht immer überzeugt, aber atmosphärisch fand ich es wirklich herausragend gut. Bin mal gespannt ob es im nächsten Band ein ähnliches Konzept gibt oder ob es dann einfach ein „normaler“ Krimi wird.