The Girl on the Train_Rezi

Es ist erst ein paar Monate her, dass Rachel Watson ein Leben wie aus dem Bilderbuch geführt hat: Ein liebevoller Ehemann, ein guter Job in der Londoner Innenstadt, ein schönes Haus in einem ruhigen Vorort – eigentlich fehlte nur noch ein gemeinsames Kind zum perfekten Familienglück. Von dieser Idylle sind Rachel aber inzwischen nur noch die täglichen Zugfahrten von Ashbury nach London und zurück geblieben, alle anderen Stützen ihres Lebens sind nach und nach weggebrochen und haben eine traurige und alkoholkranke Frau zurückgelassen, deren Alltag genauso eintönig und repetitiv ist wie der trübe Blick aus dem Zugfenster. Während der Fahrten starrt Rachel stets wehmütig auf die an ihr vorbeiziehenden Häuser und fantasiert über das Leben ihrer Bewohner, die sie hin und wieder in ihren Gärten erblicken kann. Besonders von einem Paar ist sie nahezu besessen: Jess und Jason, wie Rachel die beiden Fremden nennt, erinnern sie Tag für Tag an das Glück, das auch sie einst hatte und sind in ihrer Vorstellung fast schon zu Vertrauten geworden. Umso schockierter ist Rachel daher, als sie eines Tages in den Medien erfährt, dass „Jess“ plötzlich spurlos verschwunden ist…

Der tägliche Blick aus dem Zugfenster

Die in Zimbabwe geborene Paula Hawkins hat mit ihrem Debüt-Thriller „The Girl on the Train“ das geschafft, was sich alle Autoren erträumen: mit dem ersten Buch direkt einen Bestseller landen, der von Kritikern und Lesern gleichermaßen gefeiert wird. Von Parallelen mit Gillian Flynns Mega-Erfolg „Gone Girl“ ist die Rede und manch einer zieht sogar Vergleiche mit den Werken Alfred Hitchcocks – enorme Vorschusslorbeeren also, die natürlich auch bei mir für sehr hohe Erwartungen an das Buch gesorgt haben. Und wer den Klassiker „Das Fenster zum Hof“ des Regie-Großmeisters kennt, dem wird die Ausgangssituation von Paula Hawkins’ Roman wohl tatsächlich ein wenig vertraut vorkommen. Allerdings sitzt die Protagonistin Rachel Watson nicht an den Rollstuhl gefesselt und mit Fernglas ausgerüstet in ihrer Wohnung und spioniert die Nachbarn aus, sondern spinnt sich auf ihren täglichen Zugfahrten Geschichten um die Menschen zusammen, die an den Häusern entlang ihrer Bahnstrecke wohnen.

Eine Alkoholkranke auf verzweifelter Spurensuche

Dabei wird recht schnell klar, dass man es bei Rachel nicht gerade mit der mental stabilsten Hauptfigur zu tun hat. Rachel ist schwer alkoholkrank, hat auf dem abendlichen Weg nach Hause stets eine entsprechend gefüllte Flasche im Handgepäck und beobachtet wie betäubt die Szenen, die an ihrem Zugfenster vorbeirauschen. Dabei ist es für ihren deprimierten bis depressiven Gemütszustand sicherlich auch nicht gerade hilfreich, dass sie täglich an ihrem früheren Haus vorbeikommt, dass nun von ihrem Ex-Mann und dessen neuer Ehefrau bewohnt wird – zusammen mit dem kleinen Kind, dass ihr selbst früher immer verwehrt geblieben ist. Um dem Schmerz zu entkommen, hat sich Rachel um zwei Fremde eine fast schon wahnhafte Traumwelt aufgebaut: Jess und Jason, das perfekte Paar mit perfekten Berufen und einem perfekten Leben. Als dann aber Jess plötzlich spurlos verschwindet, bricht auch diese imaginäre Idylle in sich zusammen, gibt Rachel aber zugleich auch einen Antrieb in ihrem Leben, denn wie sie will unbedingt wissen, was mit „Jess“ passiert ist.

Ein abstoßendes, aber zugleich auch sehr faszinierendes Lügengeflecht

Passend zur täglichen Pendelei der Hauptfigur zwischen Vorort und Innenstadt Londons ist auch die Erzählweise von „The Girl on the Train“ jeweils in „morgens“ und „abends“ unterteilt, selbst wenn die Handlung nur in den ersten Kapitel auch tatsächlich während der Zugfahrten selbst stattfindet. Zudem ist die Geschichte nicht nur auf Rachel Watson beschränkt, sondern wird von Zeit zu Zeit auch noch aus der Perspektive von zwei weiteren Frauen erzählt – eine davon das vermeintliche Opfer „Jess“, an deren Leben man um ein Jahr zeitversetzt teilhaben kann. Nicht nur mit diesen wechselnden Blickpunkten erinnert Hawkins’ Thriller tatsächlich ein wenig an „Gone Girl“, auch vom Ton der Geschichte sind sich die beiden Bücher durchaus ähnlich. Auch „The Girl on the Train“ ist kein Roman, bei dem die Charaktere auch nur ansatzweise Chance auf Sympathiepreise haben, meist wandelt die Einstellung gegenüber der Charaktere beim Lesen zwischen Mitleid und Verachtung: Mitleid, weil z.B. Rachels erbärmlicher Zustand zwischen Depression, Einsamkeit und Alkoholabhängigkeit stellenweise schon sehr erschütternd ist, und Verachtung, wenn sie trotz besseren Wissens ihre Lage mit weiteren Griffen zur Flasche immer wieder verschlimmert. Je mehr man über die einzelnen Beteiligten erfährt, desto mehr verstrickt man sich auch in einem Geflecht aus Untreue, Lügen, Neid und Missgunst, das einem zum einen anwidert, das andererseits aber auch eine enorme Sogwirkung hat.

Packender und erschütternder Psychothriller-Pageturner

Und auch wenn man als erfahrener Thriller-Leser vermutlich nicht unbedingt bis zur eigentlichen Auflösung braucht, um Licht hinter die Ereignisse zu bringen, so ist es in der zweiten Hälfte fast unmöglich, das Buch aus der Hand zu legen. Man weiß aus unterschiedlichsten Gründen nie wem man trauen kann und gerade das übt eine zwar verstörende, aber extrem mitreißende Faszination aus und wenn man dann die letzte Seite überstanden hat, ist das Vertrauen in die Menschheit vermutlich kurzzeitig schon ein wenig erschüttert, weil dieses Buch eben fast nur das Schlechte in den Charakteren zum Vorschau bringt. Wer aber gerne psychologische Beziehungs-Thriller dieser Art liest, sollte sich „The Girl on the Train“ jedoch auf jeden Fall vornehmen – den Vergleich mit „Gone Girl“ gewinnt Paula Hawkins’ Debüt für mich jedenfalls ganz eindeutig.

The Girl on the Train
  • Autor:
  • Umfang: 320 Seiten
  • Verlag: Doubleday
  • Erscheinungsdatum: 15. Januar 2015
  • Preis Geb. Ausgabe 14,15 €/eBook 10,99 €
Cover:
Charaktere:
Story:
Atmosphäre:
Gesamt:
8/10
Fazit:
Paula Hawkins hat mit „The Girl on the Train“ einen packenden Psychothriller hingelegt, der mit seinen vertrauensunwürdigen Charakteren und ihren erschütternden Lügengeflechten verstört und sogar abstößt, dadurch zugleich aber auch eine enorme Sogwirkung ausübt und das Buch gerade in der zweiten Hälfte zu einem echten Pageturner macht.

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4 Antworten zu diesem Beitrag

  • Tolle Rezension! Habe selbst vor kurzen das Buch gelesen, war aber eher mäßig begeistert. An manchen Stellen fand ich es recht zäh und auch Rachels Charakter an sich hat mich so einiges Mal genervt aufstöhnen lassen.

    Das Ende konnte man auch schon recht früh absehen, aber alles in allem war es ein unterhaltsames Buch und die letzten Seiten eindeutig Pageturner 😉

    • Ich war zwischendurch auch echt angenervt von den Charakteren aber ich war schon ziemlich fasziniert davon was sich da alles für Abgründe aufgetan haben.

      Die Auflösung war wirklich nicht sooo überraschend, sowas ist mir aber dann lieber als wenn es so ein blödes Ende gibt wie z.B. bei „Gone Girl“…

  • Ich kann dir nur voll und ganz zustimmen. Gerade weil das Buch eigentlich nur aus Antihelden besteht, war es für mich so faszinierend. Auch eben die zweite Hälfte, in der die Verdächtigen ständig wechseln, da will man einfach wissen, was Rachel nun mit der Sache zu tun hat. Lediglich ab und an ist mir Rachel zu sehr im Selbstmitleid zerflossen.

    Liebe Grüße,
    Tina

    • Ich hätte Rachel manchmal am liebsten auch gegen die Wand geklatscht wenn sie mal wieder zur Flasche gegriffen hat, aber irgendwie scheinen derartige Psychothriller auch grundsätzlich nur aus unsympathischen Charakteren zu bestehen, das war ja bei GONE GIRL schon genauso^â