Eines muss man dem britischen Autor Martin R. C. Kasasian schon einmal zugestehen: entweder er ein wirklich gesundes Selbstbewusstsein – oder aber er nimmt sich selbst und sein Werk nicht ganz so ernst und betrachtet seine Charaktere mit einem gewissen Augenzwinkern. Vermutlich liegt die Wahrheit (wie so oft) irgendwo in der Mitte. Was ist der Grund für diesen Eindruck? Nun, woran denkt man zuerst, wenn die Rede von einem etwas exzentrischen Detektiv ist, der im viktorianischen London mit seiner außergewöhnlichen Auffassungsgabe und der Unterstützung eines Partners mit medizinischem Hintergrund die schwierigsten Verbrechen aufklärt? Richtig, den wohl berühmtesten Ermittler der Literaturgeschichte, Meisterdetektiv Sherlock Holmes. Dessen Schöpfer, der Schriftsteller Sir Arthur Conan Doyle, hat in Kasasians Debütroman „Mord in der Mangle Street“ einen kleinen Gastauftritt, der Anlass zum Glauben gibt, Doyle hätte seine Figur auf einem der beiden Protagonisten dieses Buches aufgebaut und sich von dessen Fällen zu seinen Romanen inspirieren lassen. So viel wie gesagt zum Thema „gesundes Selbstbewusstsein“…

Sherlock Holmes‘ hässlicher, fieser „Stiefbruder“

Natürlich ist diese kleine Szene (hoffentlich) nicht ernst gemeint sondern zeigt vielmehr, dass M. R. C. Kasasians Werk auch eine Hommage an die Werke des berühmten Autors ist – und es ist irgendwie erfrischend, wie offensiv der „Nachahmer“ mit dem naheliegenden Vergleich umgeht und gewissermaßen den Spieß umdreht. Kasasians Sherlock Holmes heißt Sidney Grice und wirkt in vielerlei Hinsicht wie eine missratene Kopie des Meisterdetektivs: während das Original als durchaus etwas extravaganter, gerne etwas belehrender, aber letztlich recht charmanter Gentleman daherkommt, ist Mr. Grice eher der hässliche, fiese Stiefbruder von Benedict Cumberbatchs „Sherlock“ – klein und dünn, mit einem schlecht sitzenden und ständig herausfallenden Glasauge, überaus arrogant und ohne jegliches Einfühlungsvermögen. Letzteres offenbart sich zum Beispiel in seiner Antwort auf die Frage, warum er so grob zu seinen Mitmenschen – im konkreten Fall einem Konstabler – sei („Das ist kein Mitmensch. Das ist ein Polizist.“) oder in seiner Haltung bezüglich der erforderlichen Gründlichkeit seiner Ermittlungen („Bei einer Prostituierten darf man sich ruhig mal irren; um einen Bischof an den Galgen zu bringen, sollte man sich aber tunlichst seiner Sache sicher sein.“). Kurzum gesagt: um sich mit Sidney Grice einzulassen, muss man schon äußerst tolerant, oder aber ziemlich verzweifelt sein.

Die Waise und der Meisterdetektiv in der großen Stadt

In erster Linie ein gewisses Maß an Verzweiflung führt auch die zweite Hauptfigur dieser Geschichte zu dem eigenwilligen Detektiv: March Middleton kommt nach dem Tod ihres Vaters nach London und steht nun nicht nur ohne Eltern, sondern auch ohne große Mittel dar. Von dem verstorbenen Militärarzt hat sie nicht viel mehr als Schulden geerbt und ohne Anstellung und Ehemann stünde der stolzen Waise wohl eine düstere Zukunft bevor. Da kommt das Angebot ihres Patenonkels nur allzu gelegen, der angibt, in der Schuld ihres Vaters zu stehen und sich deshalb bereit erklärt hat, sich March als gesetzlicher Vormund zur Verfügung zu stellen und die junge Frau bei sich wohnen zu lassen. Zwar hat Miss Middleton von diesem Patenonkel zuvor noch nie etwas gehört, aber man könnte es ihrer Ansicht nach sicherlich schlechter treffen, als im großen London bei einem berühmten und wohlhabenden Detektiv unterzukommen – denn ihr mysteriöser Wohltäter ist niemand geringeres als Sidney Grice…

Ein ungleiches Ermittlerduo mit Konfliktpotenzial

Die beiden Hauptfiguren sind sicherlich das hervorstechendste Merkmal dieses historischen Kriminalromans, wobei man hier zumindest in diesem Auftaktband wohl kaum von einem harmonischen Ermittlerduo sprechen kann. Durch die komplett gegensätzlichen Charaktere von Sidney Grice und March Middleton liefert diese eher als Zweckgemeinschaft fungierende Beziehung aber viele Reizpunkte, welche in dieser Hinsicht schon einmal für ein gutes Spannungsniveau sorgen. Auf der einen Seite der empathielose und selbstverliebte Rüpel, der sich seiner Fälle in erste Linie annimmt, um sein Vermögen und seinen Ruhm noch weiter in die Höhe zu treiben, auf der anderen Seite die selbstbewusste Rebellin, die gar nicht daran denkt, in ihrem überwiegend männlichen Umfeld zurückzustecken und stattdessen ihrem Vormund immer wieder Kontra gibt und ihn zurechtweist, wenn dieser sich z.B. mal wieder gegenüber einem Angehörigen eines Mordopfers besonders gefühlskalt gezeigt hat – was den Adressaten aber auch nicht im geringsten von seinem rücksichtslosen Verhalten abbringt. Die Sympathien sind hier natürlich klar zugunsten von Miss Middleton verteilt und was den Detektiv betrifft, so bleibt lange unklar, ob dieser nur ein arroganter Blender ist oder er sich zu Recht etwas auf seinen Ruf als außergewöhnlicher privater – Verzeihung, Mr. Grice, „persönlicher“ – Ermittler einbilden darf. So oder so ist der männliche Bewohner der Gower Street 125 das personifizierte Mansplaining und da tut es gut, in seiner weiblichen Mitstreiterin einen Gegenpol zu haben, der ihm entsprechend Paroli bietet und ihn hin und wieder in die Schranken weist.

Schuldig oder unschuldig – wer tötete Mrs. Ashby?

Auch der Kriminalfall gestaltet sich recht ungewöhnlich und scheint ein frühes Ende zu finden, kommt dann aber erst richtig ins Rollen. Konkret geht es um den brutalen Mord an einer jungen Frau, bei dem alles auf einen Verdächtigen hinzuweisen scheint: ihren Ehemann William Ashby. Allerdings finden sich am Tatort auch Hinweise auf die Tat eines Serientäters, was bei unserem unkonventionellen Ermittlerduo für weiteres Konfliktpotenzial sorgt: während Sidney Grice von der Schuld des Ehemannes überzeugt ist, glaubt March Middleton vehement, dass Mr. Ashby zum Sündenbock für das Verbrechen gemacht werden soll und etwas ganz anderes hinter der Tat steckt. Die Ermittlungsmethoden des von sich selbst eingenommenen Starermittlers werfen dabei weitere Fragen auf, da dieser häufig nicht nachvollziehbare Schlussfolgerungen aus Indizien zieht und man sich als Leser*in auch hier wieder auf die Seite seines Mündels schlägt, welches mit deutlich mehr Verstand an den Fall heranzugehen scheint.

Ein historischer Krimi zwischen Parodie und Hommage

Insgesamt ist „Mord in der Mangle Street“ schon eher leichte Kost, was unter anderem an der überzeichneten Hauptfigur oder deren starrsinnigen Ermittlungsmethoden liegt, die in der Realität so auch im 19. Jahrhundert nicht haltbar gewesen sein dürften. Wer möglichst viel über die damalige Zeit lernen will ist hier auch nicht unbedingt an der richtigen Stelle, da die Beschreibungen des viktorianischen Londons weitestgehend auch etwas oberflächlich ausfallen – ausreichend, um eine gewisse Atmosphäre aufzubauen, aber nicht detailliert genug, um wirklich tief in diese Epoche eintauchen zu können. Wenn man diese Geschichte aber nicht zu ernst nimmt – was der Autor selbst ganz offensichtlich auch nicht tut – dann kann man mit diesem mal amüsanten, mal absurden und zwischendurch dann doch auch mal ernsten Kriminalroman auf jeden Fall Spaß haben, vor allem da das Buch eine unerwartet komplexe Auflösung bietet – deren Herleitung aber eher aus dem Hut gezaubert wird und im Detail nicht immer ganz nachvollziehbar ist. Alles in allem ist „Mord in der Mangle Street“ jedoch ein gelungener Reihenauftakt, der neugierig auf weitere Fälle dieses ungewöhnlichen Ermittlerduos macht.

Vielen Dank an den Atlantik Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars.
Mehr Informationen zum Buch

Mord in der Mangle Street – M. R. C. Kasasian (Gower Street Detective #1)
  • Autor:
  • Original Titel: The Mangle Street Murders
  • Reihe: The Gower Street Detective #1
  • Umfang: 400 Seiten
  • Verlag: Atlantik
  • Erscheinungsdatum: 16. August 2017
  • Preis Taschenbuch 12,00 €/eBook 9,99 €
Cover:
Charaktere:
Story:
Atmosphäre:
Gesamt:
7/10
Fazit:
M. R. C. Kasasians Hommage an Sir Arthur Conan Doyle und dessen Figur Sherlock Holmes kratzt durch den überzeichneten Gower-Street-Detektiv und seine willkürlichen Ermittlungsmethoden manchmal an der Grenze zur Parodie, das spannungsgeladene Zusammenspiel mit dem weiblichen Gegenpart und der interessante Fall sorgen jedoch für insgesamt gute und kurzweilige Unterhaltung für Freunde nicht ganz so ernster Kriminalromane.

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