Der letzte Pilger_Rezi

Ein grausiger Knochenfund in der Nordmarka, einem stark bewaldeten Naherholungsgebiet vor Oslo, sorgt in der norwegischen Hauptstadt für Aufsehen: Im Wald wurden die skelettierten Überreste von drei Menschen gefunden, von denen zumindest zwei eines gewaltsamen Todes gestorben sind, da die Schädel der Toten Einschusslöcher aufweisen. Bei der dritten Leiche handelt es sich offenbar um ein kleines Mädchen, deren Todesursache zunächst noch unklar ist, allerdings wird schnell klar, dass die Toten offenbar seit der Zeit des Zweiten Weltkrieges in ihrem Grab im Wald lagen. Als wenig später in Oslo auch noch der frühere norwegische Widerstandskämpfer Carl Oscar Krogh tot und mit Messerstichen übersät aufgefunden wird, vermutet der ermittelnde Kommissar Tommy Bergmann schnell einen Zusammenhang zwischen dem Leichenfund in der Nordmarka und dem brutalen Mord an dem alten Kriegshelden. Der Schlüssel zur Lösung des tödlichen Rätsels scheint in der Person von Agnes Gerner zu liegen – einer der Toten im Wald, die im Krieg offenbar ebenfalls dem Widerstand gegen die Nationalsozialisten angehörte und der dies vermutlich zum Verhängnis wurde…

Ein Norwegen-Krimi mit Vorschusslorbeeren und historischem Hintergrund

„Der letzte Pilger“ ist der Debütroman des Norweger Gard Sveen und ist in der Heimat des Autors auf Anhieb zu einem Mega-Erfolg geworden, der unter anderem im Jahr 2014 mit dem Glass Key Award, dem wichtigsten Krimipreis Skandinaviens ausgezeichnet wurde – da war es natürlich schnell klar, dass auch ich als großer Fan skandinavischer Thriller und Kriminalromane nicht um dieses Werk herumkommen würde. Nach wenigen Minuten gab es aber bereits die erste Überraschung, denn streng genommen ist „Der letzte Pilger“ nur zu 50 Prozent ein typischer nordischer Krimi, während die andere Hälfte eher an einen historischen Spionageroman aus der Feder eines Glenn Meade erinnert. Sveens Geschichte erstreckt sich nämlich über zwei gleichberechtigte Handlungsstränge, von denen sich einer im Jahr 2003 einem Leichenfund aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs und dem Mord an einem norwegischen Widerstandskämpfer widmet und der andere die Hörer mitten hinein in die Ära des Nationalsozialismus versetzt und seinen Ausgangspunkt in dem rätselhaften angeblichen Selbstmord des Widerstandskämpfers Kaj Holt findet – dessen starke Namensähnlichkeit zu Kai Holst, einem der führenden Persönlichkeiten der norwegischen Widerstandsbewegung gegen die Nazis, ist übrigens alles andere als zufällig, denn der 1945 unter ähnlich widersprüchlichen Umständen zu Tode gekommene Holst ist laut Autor Gard Sveen die historische Vorlage zu diesem Roman.

Komplex und oft auch (zu) kompliziert

Nun sind Krimis mit zwei verschiedenen Zeitebenen für routinierte Leser des Genres sicherlich nichts Neues, allerdings dürften wohl selbst erfahrene Krimifans bei diesem Buch erst einmal eine nicht unerhebliche Eingewöhnungszeit benötigen, um in die Geschichte hineinzufinden und sich überhaupt erst einmal einen Überblick über die handelnden Figuren und ihre Beziehungen untereinander zu verschaffen. Das ist deshalb so schwierig, weil Sveen nicht nur sehr häufig zwischen den Kriegsjahren und der Gegenwart hin und her springt, sondern die in beiden Ebenen erwähnten Charaktere sich teilweise auch überschneiden, sodass man gerade in der Hörbuchfassung die beiden Handlungsstränge schnell mal durcheinanderbringen kann, wenn man durch eine kleine Unachtmerksamkeit mal die Datumsangabe am Beginn eines Kapitels nicht mitbekommt. „Der letzte Pilger“ ist also alles andere als einfache Krimi-Unterhaltung und erfordert nicht nur eine Menge Einarbeitung, sondern auch volle Konzentration und viel Geduld, da die Geschichte in der ersten Hälfte doch etwas schleppend in Fahrt kommt. Und auch ab der Mitte des Buches bietet Sveen seinen Lesern nicht den ganz großen Nervenkitzel, weil die Handlung zwar interessant konzipiert ist und die vielen kleinen Handlungsstränge mit einem enormen Aufwand zusammengeführt werden, es fehlt aber leider der ganz große Nervenkitzel, da das Spannungsniveau bei diesem Krimi doch eher überschaubar ist. Das mag vielleicht daran liegen, dass ein Großteil der thematisierten Verbrechen schon lange zurückliegt und in der Handlung selbst daher keine unmittelbare Bedrohungssituation vorliegt, kann aber auch darauf zurückzuführen sein, dass die Geschichte womöglich doch ein wenig überladen ist und zu viele Nebenkriegsschauplätze der Spannung etwas im Weg stehen.

Charaktere mit viel Potenzial, das aber nur oberflächlich genutzt wird

Einen ähnlich durchwachsenen Eindruck hinterlassen auch die Charaktere dieses Kriminalromans, allen voran Tommy Bergmann als ermittelnder Kommissar und Hauptfigur dieser neuen norwegischen Krimireihe. Skandinavien-typisch kommt Bergmann mit kaputtem Privatleben und der fast schon obligatorisch gescheiterten Ehe daher, wobei sein Hang zur häuslichen Gewalt den Osloer Polizisten dann doch nochmal ein wenig (negativ) von seinen Genre-Kollegen abhebt. Der daraus resultierende Mix aus Selbsthass und Selbstmitleid böte eigentlich viel Potenzial für eine spannende Charakterzeichnung, allerdings weiß man auch am Ende des Buches nicht viel mehr über Bergmann als dass er ein durchaus fähiger Ermittler ist und nebenbei eine Mädchen-Handballmannschaft trainiert – hier ist für weitere Bände der Reihe auf jeden Fall noch Luft nach oben. Auch die zweite zentrale Figur der Geschichte, die Widerstandskämpferin Agnes Gerner, kommt als geheime Agentin der Briten in einer Welt voller Nazis eigentlich mit guten Voraussetzungen daher, wird aber leider häufig ein wenig darauf reduziert, mit diversen Kontaktmännern und Zielobjekten ins Bett zu steigen – das ist dann doch ein wenig arg oberflächlich und wird einer Kämpferin gegen den Nationalsozialismus nicht immer gerecht.

Ein interessanter, aber oft mühsamer Mix aus Norwegenkrimi und historischem Spionageroman

Es gibt also viel Licht und Schatten bei Gard Sveens Romandebüt, sodass ich in die zahlreichen Lobeshymnen nicht ganz einsteigen kann. Die Geschichte ist zwar interessant konzipiert und kann zum Ende hin sogar mit einem überraschend guten Ende aufwarten, allerdings lassen sich so einige Längen einfach nicht leugnen und ein wenig mehr Spannung wäre ebenfalls wünschenswert gewesen. Auch der Hauptfigur fehlt es bisher noch an Alleinstellungsmerkmalen und an Persönlichkeit, um in der Masse an skandinavischen Ermittlern nicht unterzugehen. Wer dennoch neugierig geworden ist und sich Sveens Mix aus Norwegenkrimi und historischem Spionageroman einmal näher anschauen möchte, sollte trotz der wie immer souveränen und atmosphärischen Lesung von Detlef Bierstedt (der deutschen Synchronstimme von George Clooney) wohl eher einen Bogen um die Hörbuchfassung machen und zur Print- oder eBook-Ausgabe greifen, da die vielen Zeit- und Handlungssprünge das Hörbuch insgesamt zu einer recht mühsamen Angelegenheit machen und man hierbei wohl nicht umhin kommt, das ein oder andere Kapitel nochmal zu hören, um nicht den Überblick zu verlieren – wer selbst liest dürfte es hier ein wenig einfacher haben.

Der letzte Pilger (Ein Fall für Tommy Bergmann #1)
  • Autor:
  • Sprecher: Detlef Bierstedt
  • Original Titel: Den siste pilegrimen
  • Reihe: Tommy Bergmann #1
  • Länge: 16 Std. 39 Min. (ungekürzt)
  • Verlag: HörbucHHamburg HHV GmbH
  • Erscheinungsdatum: 26. Februar 2016
  • Preis 29,95 € (9,95 € im Audible-Flexi-Abo)
Charaktere:
Story:
Atmosphäre:
Sprecher:
Gesamt:
6/10
Fazit:
Gard Sveen liefert mit seinem Debüt „Der letzte Pilger“ einen anspruchsvollen und durchaus interessanten Mix aus Skandinavien-Krimi und historischem Spionageroman ab, dessen komplex konstruierten und mit vielen Zeitsprüngen verbundenen Handlungsstränge jedoch viel Geduld und Konzentration erfordern und gerade in der etwas unübersichtlichen Hörbuchfassung wohl für (zu) viel Verwirrung und auch ein wenig Frustration sorgen dürften.

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