Der Turm der toten Seelen_Rezi

Für einen Jungen aus einfachen Verhältnissen, der in einem sozial eher schwachen Stadtteil Stockholms aufgewachsen ist, hat Leo Junker eigentlich eine bemerkenswerte Karriere hingelegt. Schon in jungen Jahren stieg Leo bis zum internen Ermittler bei der Polizei auf, bis er bei einem großen Undercover-Einsatz hereingelegt wurde, der geplante Zugriff in einem Fiasko endete und er alleine die Konsequenzen für diesen Fehlschlag tragen musste. Seitdem ist der 33-Jährige vom Dienst suspendiert, hat nach dem traumatischen Erlebnis mit Panikattacken zu kämpfen und schafft es nicht, ohne einen bedenklichen Tablettenkonsum den tristen Alltag zu überstehen. Ein Mord in seinem Wohnhaus reißt ihn dann aber aus seinem stumpfen Dasein heraus: In einer Auffangstelle für Drogenabhängige und Obdachlose einige Stockwerke unter seiner Wohnung wurde die Leiche einer jungen Prostituierten aufgefunden – die Frau wurde mit einem Kopfschuss eiskalt hingerichtet. Die Neugier des Polizisten ist geweckt und er beginnt auf eigene Faust zu ermitteln – auch weil ein Detail am Tatort in ihm einige unangenehme Erinnerungen weckt…

Schweden in Kriminalromanen: düster, abschreckend, deprimierend

„SCHWEDEN MUSS STERBEN.“ Wenn ein Thriller schon mit derart drastischen Worten beginnt, deutet vieles auf einen düsteren, knallharten und schonungslosen Roman hin – und in gewisser Weise ist „Der Turm der toten Seelen“ von Schwedens neuem Autoren-Jungstar Christoffer Carlsson dies auch, allerdings sicherlich auf andere Weise als womöglich erwartet. Wie viele seiner schreibenden Landsleute zeichnet auch der 28-jährige Carlsson kein allzu glorreiches Bild seiner Heimat: Heruntergekommene Stadtteile mit von Graffiti beschmierten Häusern, sozial schwache und zerrüttete Familien, Drogenmissbrauch, mit Alkohlabstürzen verbundene Depressionen, demütigendes Mobbing und brutale Schlägereien an Schulen – wer in nächster Zeit einen Abstecher in den hohen Norden plant, sollte dieses Buch vielleicht besser nicht zu seiner Urlaubslektüre machen.

Der typische Schwedenkrimi – oder doch nicht?

Eine derart trostlose Atmosphäre und eine eher deprimierende und abschreckende Wirkung ist für einen Schwedenkrimi nun wahrlich nichts neues und gehört praktisch genauso zum Einmaleins wie der problembehaftete Ermittler, den auch Christoffer Carlsson in den Fokus seiner Geschichte stellt. Dabei war der 33-jährige Leo Junker gerade noch ein aufsteigender Stern bei der Abteilung für Interne Ermittlungen der Stockholmer Polizei, doch ein kapitaler Fehlschlag hat seine Bilderbuch-Karriere von einem Moment auf den anderen zum Einsturz gebracht – nun dominieren Einsamkeit, Trübsal, Tabletten, Alkohol und Panikattacken seinen Alltag. Wo soll das nur hinführen, wenn schon der junge Polizeinachwuchs ähnlich abstürzt wie die alten skandinavischen Ermittlerhasen Kurt Wallander oder Harry Hole… An dieser Stelle könnte man „Der Turm der toten Seelen“ bereits als uninspirierten 08/15-Krimi beiseite legen, damit würde man aber meiner Meinung nach einen der originellsten Vertreter des Schwedenkrimi-Genres verpassen. Ich habe in meinem Leben schon unzählige Thriller und Kriminalromane gelesen, doch ein Aspekt wird in Bezug auf die Protagonisten so gut wie nie beleuchtet: Wie diese überhaupt aufgewachsen sind und wie aus ihnen der (oft gebrochene) Mensch wurde, der sie nun sind.

Kein klassischer Whodunit-Krimi, aber ein dennoch intensiver Roman

Während also im Haupt-Handlungsstrang in eher gemächlichem Tempo die Ermittlungen Leo Junkers im Prostituierten-Mord voranschreiten, hat der zweite Teil des Buches fast den Charakter eines Jugendromans und stellt den heranwachsenden Leo in den Mittelpunkt der Geschichte, der im sozialen Brennpunkt Salem, einer der weniger freundlichen Ecken Stockholms, aufwächst und dabei nicht nur mit den normalen Problemen des Erwachsenwerdens kämpft, sondern auch die brutale Härte des Vororts am eigenen Leib zu spüren bekommt. Dass diese Rückblicke auf Junkers turbulente Jugend nicht nur zur Charakterisierung des Ermittlers dienen, sondern auch eine bedeutende Rolle bei dessen aktuellem Fall spielen, wird dabei schnell klar – wie im Übrigen auch die Tatsache, wer für den Mord in Leos Wohnhaus verantwortlich ist. Diese frühe Auflösung tut dem Lesevergnügen – wenn man dies bei einem derart deprimierenden und desillusionierenden Roman überhaupt so bezeichnen kann – aber keinen Abbruch, denn „Der Turm der toten Seelen“ ist ohnehin weniger als Whodunit-Krimi, sondern vielmehr als bitteres Psychodrama und erschütternde Gesellschaftsstudie angelegt. Christoffer Carlsson schlägt beim ersten Band seiner Leo-Junker-Reihe zwar eher leise Töne an, diese sind aber nicht weniger wirkungsvoll. Wer sich nach unzähligen Skandinavien-Thrillern also mal nach einem etwas anderen Schwedenkrimi sehnt, der dürfte hier ohne Frage fündig werden. Dieser Auftakt macht auf jeden Fall Lust auf die weiteren Bände der Reihe – der zweite Teil „Schmutziger Schnee“ wird hierzulande im Oktober 2015 erscheinen.

Der Turm der toten Seelen
  • Autor:
  • Original Titel: Den osynlige mannen från Salem
  • Reihe: Leo Junker #1
  • Umfang: 352 Seiten
  • Verlag: C. Bertelsmann
  • Erscheinungsdatum: 9. März 2015
  • Preis Broschiert 14,99 €/eBook 11,99 €
Cover:
Charaktere:
Story:
Atmosphäre:
Gesamt:
8/10
Fazit:
Christoffer Carlssons „Der Turm der toten Seele“ funktioniert als klassischer Whodunit-Krimi eher mäßig, bringt durch die fast schon Jugendbuch-ähnliche zweite Erzählebene aber viel frischen Wind in das Schwedenkrimi-Genre und überzeugt nicht zuletzt dank der spannenden Hauptfigur und der düster-melancholischen Atmosphäre als ernüchterndes Psychodrama.

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2 Antworten zu diesem Beitrag

  • Von DieLeserin am 2. Apr 2015 um 19:24

    Wie gut, dass das Buch schon hierliegt, sonst hätte ich es spätestens nach deiner begeisterten Rezension kaufen müssen. 🙂
    Bin jetzt sehr gespannt auf die Lektüre, zumal du sagst, dass es frischen Wind bringt.

    Liebe Grüße, Iris

    • Es ist als reiner Krimi vielleicht nicht unbedingt super spannend, aber ich finde es total gut dass man eben die komplette Entstehungsgeschichte mit ihren Anfängen im Jugendalter der Hauptfigur bekommt, das finde ich ziemlich interessant und ist mir in dieser ausgeprägten Form auch noch nicht untergekommen.