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Bei einer Routinerecherche stößt ein Mitarbeiter der staatlichen Kontrollbehörde auf den rätselhaften Unfalltod zweier Jungen. Warum mussten die beiden Kinder in dem Erziehungsheim für schwer erziehbare Jugendliche sterben?

Óðinn Hafsteinssons Leben hat in den vergangenen Monaten ein paar einschneidende Veränderungen durchlaufen: Seit dem tödlichen Unfall seiner Ex-Frau Lára wohnt er nun mit seiner 11-jährigen Tochter Rún zusammen und muss endlich lernen, seiner Vaterrolle gerecht zu werden – nachdem er zuvor jahrelang die Erziehung der Mutter überlassen und seine Tochter weitestgehend vernachlässigt hat. Auch beruflich geht Óðinn seit drei Monaten neue Wege, denn um mehr Zeit für Rún zu haben, hat er einen langweiligen Bürojob bei der staatlichen Kontrollbehörde angenommn und seine geliebte Stelle in der Baufirma seines Bruders aufgegeben.

Ermittlungen über eine Tragödie in einem Erziehungsheim

Nach dem Tod seiner Kollegin wird er damit beauftragt, das Projekt der Verstorbenen weiterzuführen. Diese arbeitete an einem Bericht über das Erziehungsheim Krókur, in dem in den 1970er Jahren schwer erziehbare Jugendliche untergebracht waren. Da in der jüngeren Vergangenheit immer wieder ehemalige Bewohner isländischer Kinderheime wegen schlechter Behandlung oder durch Gewaltanwendung hervorgerufene bleibende Schäden Entschädigungsansprüche geltend gemacht haben, soll Óðinn nun prüfen, ob das auch beim Erziehungsheim Krókur der Fall sein könnte. Bei der Einarbeitung in die Unterlagen seiner Kollegin stößt er jedoch schnell auf einen tragischen Vorfall, der den Staat möglicherweise in Bedrängnis bringen könnte, denn 1974 kamen in Krókur zwei Jungen unter rätselhaften Umständen ums Leben…

Auf der Suche nach einem zweiten „Geisterfjord“

In den drei Jahren meines Blogs sind nun insgesamt deutlich über 250 Buch- und Hörbuchrezensionen zusammengekommen und seit gut zwei Jahren steht ein Roman unangefochten an der Spitze meiner Wertungsrangliste: Yrsa Sigurðardóttirs „Geisterfjord“, das mich im Oktober 2011 total gefesselt und mit seiner unheimlichen Geistergeschichte richtig gegruselt hat. Seitdem bin ich auf der Suche nach einer ähnlich spannenden und beängstigenden Geschichte, die bei mir für vergleichbare Herzattacken sorgen könnte – leider bisher ohne Erfolg. Daher hat bei mir die Ankündigung zu Yrsa Sigurðardóttirs neuem Thriller „Seelen im Eis“ direkt wieder für erhöhten Pulsschlag gesorgt, zumal erste Pressestimmen noch mehr Spannung als bei „Geisterfjord“ versprachen – folglich hatte ich das Buch innerhalb von wenigen Sekunden auch schon vorbestellt und als das Buch dann Ende Oktober bei mir eintrudelte, musste ich auch umgehend mit der Lektüre beginnen.

Bewährte Erzählstruktur mit zwei sich abwechselnden Handlungssträngen

Schon auf den ersten Seiten wird klar, dass die Autorin wieder auf das bewährte Erfolgskonzept von „Geisterfjord“ zurückgreift. Wieder verteilt sich die Geschichte auf zwei Handlungsstränge: In der Gegenwart arbeitet der Beamte Óðinn Hafsteinsson an einem Bericht über das Erziehungsheim Krókur und untersucht mögliche Entschädigungsansprüche ehemaliger Heimbewohner, während parallel dazu aus der Sicht der Heimangestellten Aldís die Geschehnisse in Krókur aus dem Jahr 1974 geschildert werden – dem Jahr, in dem zwei Jungen in der Erziehungsanstalt auf tragische Weise den Tod fanden. Gerade die Gegenwartshandlung wirkt in den ersten Kapiteln aber etwas bemüht, denn es ist nicht unbedingt ersichtlich, warum Óðinn mehr als 30 Jahre nach Schließung des Heims plötzlich den dortigen Umgang mit den Kindern untersuchen soll – schließlich hat in all den Jahrzehnten niemand irgendwelche Entschädigungen für unangemessene Behandlungen eingefordert. Allerdings spielt die Recherche Óðinn anfangs ohnehin eine eher untergeordnete Rolle, denn primär dreht sich die Handlung um das Zusammenleben zwischen ihm und seiner Tochter Rún, die nach dem Unfalltod seiner Exfrau unter seiner Obhut steht. Hier dreht sich viel um die Verarbeitung der Tragödie und das Zusammenfinden von Vater und Tochter, die vor dem Unglück nur ein sehr distanziertes Verhältnis zueinander hatten.

Wenig Spannung & kaum Grusel

Wenn man wie Yrsa Sigurðardóttir einen so beängstigenden Roman wie „Geisterfjord“ hingelegt hat und „Seelen im Eis“ dementsprechend euphorisch bewirbt, muss man sich auch am eigenen Maßstab messen lassen. Fast zwangsläufig erwartet man mindestens genauso unheimliche Szenen und ähnlich fiese Cliffhanger wie in „Geisterfjord“, wo man vor lauter Spannung das Buch kaum aus der Hand legen konnte – und man wartet weitestgehend vergebens. Zwar versucht die Isländerin nach den sehr ruhigen Anfangskapiteln erneut einen subtilen Grusel zu erzeugen, vermag dies aber nicht überzeugend umzusetzen. Plötzlich offenstehende Fenster, nasse Fußabdrücke oder seltsame Flüsterstimmen sind mittlerweile reichlich abgenutzt und genügen nicht mehr, um beim Leser Gänsehaut hervorzurufen – zumal diese Mittel häufig etwas willkürlich eingesetzt scheinen. Dies gilt leider für beide Handlungsstränge, die sich zwar insgesamt flüssig und gefällig lesen lassen, dabei aber nur sehr wenig Spannung erzeugen. Verglichen mit „Geisterfjord“ kommen die „unheimlichen“ Momente auch etwas sehr bodenständig daher, richtige Mystery-Elemente finden sich hingegen kaum.

Gutes Schlussdrittel mit unnötig entschärftem Ende

Nach einer alles in allem etwas enttäuschenden ersten Hälfte nimmt der Roman dann aber doch noch etwas an Fahrt auf und sorgt gerade im Schlussdrittel dann trotz der stellenweise etwas vorhersehbaren Story für spannende Unterhaltung, wenngleich die Zusammenführung der Erzählfäden diesmal ein wenig konstruiert wirkt und nicht immer plausibel erscheint. Es sind aber vor allem die letzten Seiten, die einen etwas bitteren Beigeschmack hinterlassen. Zum einen gelingt es Sigurðardóttir, trotz des unnötig spoilernden Prologes die Geschichte dennoch zu einem in meinen Augen wirklich starken und erschütternden Abschluss zu bringen – nur um dann in einem völlig überflüssigen Nachwort das Ende wieder abzumildern und ihm damit den Wind aus den Segeln zu nehmen. Somit schafft es „Seelen im Eis“ meiner Meinung nach leider bei weitem nicht, an die Qualität von „Geisterfjord“ anzuknüpfen, dazu fehlt es dem Roman einfach zu sehr an Spannung und Atmosphäre. Für einen verregneten Sonntag ist das Buch mit Abstrichen dennoch durchaus empfehlenswert, man sollte nur keinen ultimativen Grusel-Thriller erwarten – die Gefahr, nach der Lektüre kein Auge mehr zuzubekommen, besteht hier nämlich definitiv nicht.

Fazit:
Ordentlicher Island-Thriller, bei dem Spannung und Gruselfaktor aber auf einem überschaubaren Level bleiben und der dadurch das Niveau von „Geisterfjord“ deutlich verfehlt (6/10).

Buchcover
Autoren: Yrsa Sigurðardóttir; Originaltitel: Kuldi; Umfang: 368 Seiten; Verlag: Fischer Taschenbuch; Erscheinungsdatum: 23. Oktober 2013; Preis: Taschenbuch 9,99 €/eBook 9,99 €.

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