Man könnte fast den Eindruck gewinnen, dass Anette Strohmeyer eine Abneigung gegen deutsche Skandinavien-Urlauber entwickelt, sobald sie ihr „nordisches“ Pseudonym Anne Nørdby überstreift, denn wie schon in „Kalter Strand“ hat es die mittlerweile in Kopenhagen lebende Autorin in „Kalte Nacht“ auch beim zweiten Auftritt ihres Ermittlers Tom Skagen auf die Touristen aus ihrem Heimatland abgesehen. Während im ersten Band eine deutsche Familie in einer dänischen Ferienhaussiedlung einen regelrechten Höllentrip erlebte, trifft es diesmal die Hamburger Familie Nowak, die sich in einem südschwedischen Dorf ihre ganz persönliche Urlaubsidylle aufbauen wollte. Doch der Traum vom Schweden-Klischee im renovierten roten Holzhaus mitten im Wald findet im beschaulichen Hultsjö ein jähes und schreckliches Ende, als der Wagen der vierköpfigen Familie zerschellt am Baum neben einer Landstraße gefunden wird. Der Vater wurde offenbar beim Aufprall getötet, die ältere Tochter liegt ebenfalls tot auf der Rückbank und ihre jüngere Schwester schwer verletzt auf dem Beifahrersitz. Ein tragischer Unfall, der bei der Polizei aber schnell beunruhigende Fragen aufwirft, denn zum einen fehlt von der Mutter jede Spur, zum anderen war das ältere Mädchen offenbar bereits verstorben, bevor das Auto von der Straße abkam…
Der Traum vom schwedischen Urlaubsidyll endet tödlich
Da es sich bei Familie Nowak um deutsche Opfer handelt wird von den schwedischen Ermittlern Kontakt zur in Hamburg angesiedelten Sondereinheit Skanpol, einer auf Verbrechen in Skandinavien fokussierten Untereinheit von Interpol, aufgenommen. Für Ermittler Tom Skagen bekommt der Fall schnell eine persönliche Note, da er unweit des Unfallortes aufgewachsen ist und zu Jugendzeiten mit der schwedischen Ermittlerkollegin befreundet war, die nun das Rätsel um das Schicksal der Nowaks aufklären soll. Grund genug für den in Deutschland stationierten Skagen, auf eigene Faust nach Schweden zu reisen und gegen den Willen seiner Vorgesetzten vor Ort auf Spurensuche zu gehen.
Zweiter Fall für Skanpol-Ermittler Tom Skagen
Dieses unkonventionelle Vorgehen lässt Tom Skagen möglicherweise rebellisch und eigenwillig erscheinen, wie man es vom einem Ermittler eines typischen Schwedenkrimis erwarten würde, allerdings wirkt Skagen gegenüber seinen Genrekollegen fast schon erstaunlich zahm. Denn Tom ist sympathisch, umgänglich und aufgeschlossen, beweist Einfühlungsvermögen im Umgang mit Kollegen, Zeugen und Hinterbliebenen und könnte fast schon als langweilig bezeichnet werden – wenn da nicht auch ein düsteres Geheimnis über dem Polizisten schweben würde. Zugegeben, das Drama um Tom Skagens Vergangenheit und Andeutungen über dessen „dunkle Seite“ wirken manchmal etwas aufgezwungen, um der „netten“ Figur ein paar Ecken und Kanten zu verschaffen, dennoch ist der Skanpol-Polizist insgesamt ein sehr angenehmer Vertreter seiner Zunft, den man auch bei seinem zweiten Auftritt gerne begleitet.
Welche düsteren Geheimnisse verbirgt das Dorf im Wald?
Auch die Geschichte selbst macht einen guten Eindruck und man merkt früh, dass Anne Nørdby alias Anette Strohmeyer über viel Routine im Krimi- und Thriller-Genre verfügt. Über verschiedene Handlungsebenen wird das Geheimnis um die Nowaks von mehreren Seiten zugleich entschlüsselt, der Spannungsbogen wird gekonnt aufgebaut und auch das Setting des etwas hinterwäldlerischen schwedischen Kaffs mit seinen Außenstehenden gegenüber eher feindlich gesinnten Bewohnern ist perfekt gewählt, um systematisch eine immer bedrohlicher wirkende Atmosphäre zu erzeugen. Denn irgendwie scheint in Hultsjö hinter der Fassade der harmlosen Dorfidylle jeder auf seine eigene Weise Dreck am Stecken zu haben, der von Tom Skagen und seinen Kolleg:innen nach und nach an die Oberfläche getragen wird.
Spannender und routiniert erzählter Schweden-Krimi
Wer also bereits „Kalter Strand“ mochte, der wird sich mit ziemlicher Sicherheit auch an „Kalte Nacht“ erfreuen können, denn die beiden Bücher funktionieren nach einem sehr ähnlichen Schema und verfügen praktisch auch über die gleichen Stärken und Schwächen: so ist Ermittler Tom Skagen eine sympathische Hauptfigur, die aber eben auch ein bisschen austauschbar ausfällt und mit seinem ominösen Trauma etwas zu künstlich „aufgepeppt“ wird, der Schauplatz der Geschichte ist clever gewählt und stimmungsvoll in Szene gesetzt und die Handlung spannend geschrieben und schlüssig konstruiert, auch wenn wie schon beim Vorgänger am Ende doch etwas arg viele Zufälle auf einmal zum Tragen kommen, um das Rätsel um das traurige Schicksal der deutschen Touristenfamilie aufzulösen. Das ist aber insgesamt Meckern auf hohem Niveau, denn wirklich viel gibt es an dem zweiten Skanpol-Band von Anne Nørdby eigentlich nicht auszusetzen und damit wird auch „Kalte Nacht“ wieder zur bestens geeigneten Krimi-Lektüre für den nächsten Sommerurlaub – allerdings sollte man das Buch besser mit Vorsicht genießen, falls man sich dafür in einem urigen, roten Ferienhaus im skandinavischen Niemandsland einnisten will…
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8/10