Sarah Bridgewaters Leben wird zu einem Albtraum, als sich plötzlich ein wildfremder Mann in ihren Alltag drängt und steif und fest behauptet, ihr Ehemann Stephen zu sein…

Als Sarahs sechsjähriger Sohn Harvey eines Abends verängstigt in ihr Zimmer kommt und von einem unheimlichen Mann berichtet, der vor seinem Fenster herumschleiche, tut sie dies als Einbildung oder schlechten Traum des Kindes ab. Schließlich liegt Harveys Zimmer im ersten Stock und ist damit von außen unerreichbar, außerdem hat ihr Sohn Sarah erst kürzlich von einem großen Hund erzählt, der eines Tages in der Küche gestanden hätte – was sich ebenfalls als falscher Alarm herausstellte. Doch kaum hat die Mutter ihr aufgeregtes Kind beruhigt und ihn davon überzeugt, dass er sich vor keinem Fremden zu fürchten habe, sorgen plötzliche Geräusche im Erdgeschoss bei ihr für helle Aufregung.

Was geschah mit Stephen Bridgewater?

Von dort vernimmt Sarah nämlich unerwartete Schritte, doch nach einem ersten Schrecken folgt auch schon die vermeintliche Beruhigung: Wie sie am frisch geparkten Wagen in der Auffahrt und der mit einem Schlüssel geöffneten Haustür erkennt, ist ihr Mann Stephen überraschend früh von seiner Geschäftsreise zurückgekehrt. Als Sarah jedoch daraufhin die Küche betritt, um Stephen zu begrüßen, folgt der Schock: Der Mann, der sich gerade wie selbstverständlich am Kühlschrank der Bridgewaters bedient, trägt zwar Stephens Kleidung, hat ansonsten aber überhaupt nichts mit ihrem Ehemann gemeinsam – schon gar nicht das entstellte Gesicht, das von zahlreichen hässlichen Narben gezeichnet ist. Während Sarah panisch um Fassung ringt, gibt der Fremde sich jedoch seelenruhig als ihr Mann aus und weiß Dinge, die außer dem Ehepaar niemand wissen kann. Wer ist dieser unheimliche Fremde, der nachts so unvermittelt in Sarahs Haus eingedrungen ist und viel wichtiger: Was hat dieser Mann mit Stephen Bridgewater angestellt?

Grandioser Auftakt von Wulf Dorns neuem Psychothriller

Wulf Dorns neuer Psychothriller „Phobia“ beginnt so, wie man sich als Thrillerfan einen Romaneinstieg erträumt. Auf einen kurzen und rätselhaften Prolog folgt ein Auftakt wie aus dem Lehrbuch: Sarah Bridgewaters nächtliches Aufeinandertreffen mit dem furchteinflößenden Fremden bringt nämlich alles mit sich, was ein Buch braucht, um seine Leser sofort in die Geschichte hineinzuziehen. Die bizarre Szene ist originell, spannend, unheimlich und mysteriös zugleich und sorgt nicht nur für einen erhöhten Pulsschlag, sondern wirft auch gleich zahlreiche Fragen auf. Wer ist der Eindringling, woher kennt er Sarahs und Stephens Gewohnheiten und Details aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit und was ist mit Sarahs Mann passiert? Vor allem die Selbstverständlichkeit, mit der sich der Fremde als Stephen Bridgewater ausgibt, ist wirklich beängstigend und bringt nicht nur die Protagonistin um den Verstand.

Anschließend gönnt der Autor seinen Lesern eine kurze Erholungspause, in der die zweite Hauptfigur des Romans eingeführt wird: Der ehemalige Psychiater Mark Behrendt, den Dorns Stammleser schon aus „Trigger“ kennen. Mark reist nach London, wo sich wenige Tage zuvor sein früherer Doktorvater und Mentor mit einem Sprung von einer Brücke überraschend das Leben genommen hat. In der englischen Hauptstadt angekommen, wird er dort mit den rätselhaften Hinterlassenschaften des Professors konfrontiert, die eine Erklärung für den Freitod des Mannes liefern sollen und auch Marks eigenes Leben betreffen – als hätte dieser nicht ohnehin schon genug damit zu tun, den tragischen Verlust seiner Freundin Tanja zu verkraften, die bei einem Unfall ums Leben gekommen ist.

Packende Story ohne großes Blutvergießen

Das erste Drittel von Phobia zählt ohne Zweifel mit zu dem Besten, was ich in diesem Jahr im Thriller-Genre gelesen oder gehört habe. Sowohl Sarahs als auch Marks Handlungsstrang sind spannend geschrieben und mit zahlreichen Rätseln gespickt, die bei Lesern und Protagonisten gleichermaßen für große Verwirrung sorgen. Besonders gut hat mir dabei gefallen, dass Wulf Dorn zwar ein durchaus ungewöhnliches Ausgangsszenario gewählt hat, das bei aller Originalität aber auch die Glaubwürdigkeit nicht aus den Augen verliert. Natürlich fragt man sich an der ein oder anderen Stelle, ob sich so eine Geschichte auch im wahren Leben abspielen könnte, allerdings ist „Phobia“ zu keinem Zeitpunkt so abgedreht oder konstruiert, wie es beispielsweise die letzten Werke von Sebastian Fitzek waren. Dorn verkneift sich übermäßiges Blutvergießen und übertriebene Gewaltdarstellungen und erzählt seine Geschichte eher auf ruhige Art und Weise, was aber keinesfalls auf Kosten der Spannung geht und dem Buch sogar richtig gut tut.

Ruhige Erzählweise, subtile Spannung, gelungene Charaktere

Es ist zur Abwechslung einfach mal sehr angenehm, einen vergleichsweise bodenständigen Thriller zu lesen, der nicht in jedem Kapitel krampfhaft die ganze Handlung über den Haufen schmeißt, nur um 20 Seiten später wieder eine völlig andere Richtung einzuschlagen, um den Leser immer wieder aufs Neue zu schocken. „Phobia“ ist subtiler und setzt voll auf die clevere Story und seine gelungenen Charaktere, die alle ihr Paket zu tragen haben und dadurch sehr interessant sind – was auch für die Persönlichkeit des Täters gilt, der hier nicht nur plump als das Böse in Person dargestellt wird, sondern dessen Handeln trotz anfänglicher Zweifel meinerseits tatsächlich nachvollziehbar erscheint. Dafür sorgt Dorn mit seiner sehr guten Auflösung, die zwar nicht den großen Knalleffekt bietet, die Geschichte aber dennoch erfolgreich abrundet und alle offenen Fragen beendet – nur um im letzten Augenblick dann doch noch einen kleinen Cliffhanger anzusetzen, der die Vorfreude auf das nächste Buch schon einmal anfacht.

Ein großartiger Psychothriller fast ohne Schwächen

Ich habe bei „Phobia“ eigentlich nur zwei kleine Kritikpunkte. Zum einen wird der Handlungsstrang um Mark Behrendt meiner Meinung nach nicht ganz konsequent fortgeführt und muss zu sehr zugunsten des Rätsels um den „falschen“ Stephen Bridgewater zurückstecken, wodurch der gelungene Anfang mit dem rätselhaften Selbstmord von Marks Mentor etwas verpufft. Auch der zweite Makel betrifft die Figur des ehemaligen Psychiaters: Für meinen Geschmack geht Wulf Dorn hier zu wenig auf die Vorgeschichte Behrendts ein, sodass dessen Verhalten und Probleme für Neueinsteiger nicht immer gut nachvollziehbar sind. Hier hätten ein paar ausführlichere Rückblenden für all diejenigen, die wie ich „Trigger“ noch nicht gelesen haben, für Abhilfe und ein besseres Verständnis sorgen können. Dennoch ist „Phobia“ insgesamt aber ein absolutes Thrillerhighlight, das für mich ganz klar zu den Top-Titeln des Jahres gehört und das man sich nicht entgehen lassen sollte, wenn man auf raffinierte und mitunter sogar etwas unheimliche Psychothriller steht. Hier kann sich selbst Bestsellerautor Sebastian Fitzek noch eine Scheibe abschneiden, denn Wulf Dorns Thriller hat das, was Fitzeks letzten Werken leider abhanden gekommen ist: Eine clevere und wendungsreiche Story, die aber dennoch nicht die nötige Glaubwürdigkeit vermissen lässt. Sehr empfehlenswert ist im Übrigen auch die von mir gehörte Hörbuchfassung des Buches, welche dank der wieder einmal grandiosen Lesung von David Nathan der gedruckten Version in meinen Augen überlegen ist. Doch egal ob als Hörbuch oder Print-Ausgabe: Wulf Dorns „Phobia“ sollte man sich als Thrillerfan definitiv nicht entgehen lassen.

Fazit:
Raffinierter, mysteriöser und unheimlicher Psychothriller, der mit seiner bodenständigen Erzählweise, einer ausgeklügelten Story und glaubwürdigen Charakteren überzeugt (9/10).

Hörbuchcover
Autor: Wulf Dorn; Sprecher: David Nathan; Spieldauer: 09 Std. 09 Minuten (ungekürzt); Anbieter: Random House Audio, Deutschland; Veröffentlicht: 09. September 2013; Preis: 19,50 € (9,99 € im Flexi-Abo).

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