Schon bei seinem letzten Krimi „Die Strömung“ hat das das schwedische Autorenpaar Cilla und Rolf Börjlind gezeigt, dass sie in ihren Geschichten versuchen, aktuelle gesellschaftliche und politische Themen mit einzubeziehen – so stand der dritte Band ihrer Reihe stark unter dem Eindruck des zunehmenden Rassismus in Europa im Allgemeinen und in Schweden im Speziellen. Auch „Schlaflied“, der vierte Fall für das Ermittlerteam um die junge Polizistin Olivia Rönning und den ehemaligen Kommissar Tom Stilton schlägt in eine ähnliche Kerbe und greift diesmal die Situation um die weltweite Flüchtlingskrise auf. So befindet sich Stockholm zu Beginn dieser Geschichte fast schon in einem Ausnahmezustand und vor allem am Bahnhof scheint die Situation zunehmend außer Kontrolle zu geraten: immer mehr Asylsuchende aus Kriegsgebieten kommen in der schwedischen Hauptstadt an und die Behörden und Hilfskräfte können den großen Ansturm kaum noch bewältigen. Flüchtlingshelfer sind ebenso am Rande der Erschöpfung wie die Neuankömmlinge, die in den meisten Fällen eine wochenlange Odyssee durch die halbe Welt hinter sich haben und voller Angst und Ungewissheit in die Zukunft blicken.

Stockholm im Griff der Flüchtlingskrise

Für die Geschichte dieses Buches ist der chaotische Stockholmer Bahnhof praktisch die Ausgangsstation, vom dem die einzelnen Handlungsstränge ähnlich wie die ein- und ausfahrenden Züge abgehen und immer wieder zusammenkommen. Direkt vor Ort im Einsatz ist Olivia Rönning, die neben ihren Schichten bei der Polizei ihre Freizeit opfert, um teilweise bis spät in die Nacht bei der Versorgung der Flüchtlinge zu helfen. Doch auch sie kann nicht verhindern, dass der überlaufene Bahnhof zu einer Art Selbstbedienungsladen für Kriminelle wird, die aus der Krise Profit schlagen wollen – so scheint dem Menschenhandel Tür und Tor geöffnet und vor allem junge Asylsuchende landen im Fokus von organisierten Banden, die sich mit Sklaverei und Prostitution persönlich an dem Elend bereichern wollen. Als in den Wäldern Smalands die übel zugerichtete Leiche eines Jungen gefunden wird, deutet vieles darauf hin, dass auch er an die Falschen geraten ist und die Hoffnung auf ein neues Leben für ihn in einem gewaltsamen Tod endete – kein leichter Fall für Olivia und ihre Kollegen und einer, der ihnen auch persönlich sehr nahe geht…

Der vierte Einsatz für das ungewöhnliche Team der Börjlinds

Neben ihrer thematischen Aktualität zeichnen sich die Börjlind-Krimis immer auch durch ihren großen Kreis an Protagonisten aus und daran hat sich auch im vierten Anlauf erst einmal nichts geändert. So läuft die Reihe zwar meist unter der Bezeichnung „Rönning/Stilton-Serie“, Olivia und Tom sind aber nur zwei von vielen Charakteren, die in den Büchern eine wiederkehrende und auch wichtige Rolle einnehmen. So ist natürlich z.B. auch in diesem Band wieder Olivias Mentorin Mette Olsäter ebenso dabei wie die messerwerfende „Allzweckwaffe“ Abbas el Fassi, wenngleich letzterer diesmal wieder nur einen kleinen Auftritt hat. Dafür bekommt nun eine Figur eine Hauptrolle, die noch aus Tom Stiltons Zeit als Obdachloser stammt, nämlich die junge Muriel, die im Gegensatz zum wieder in die Spur zurückgekehrten Ermittler immer noch auf der Straße lebt und sich mit gelegentlicher Prostitution und der Unterstützung ihrer Leidensgenossen über Wasser hält. Als Muriel aber auf der Straße ein Flüchtlingsmädchen trifft und es in ihre Obhut nimmt, scheint diese Verantwortung vielleicht genau der richtige Anlass zu sein, ihr eigenes Leben wieder unter Kontrolle zu bekommen…

Viele Perspektiven, von denen nicht alle gleich spannend sind

Es sind eben auch diese menschlichen Geschichten, welche diese Reihe immer wieder auszeichnen, auch wenn es bei der Vielzahl an Figuren und dadurch entstehender Handlungsstränge jedes Mal ein Balanceakt ist, diese alle unter einen Hut zu bekommen, ohne das Wesentliche aus den Augen zu verlieren. Das gelingt auch hier nicht immer optimal, sodass „Schlaflied“ an manchen Stellen etwas aufgebläht wirkt und nicht alle Perspektiven auf gleichem Niveau spannend sind. Auch der Fall selbst ist zwar grundsätzlich interessant, leidet aber auch ein wenig unter dieser Zerstückelung und führt von den Philippinen über Stockholm nach Bukarest und wieder zurück – einerseits durch die verschiedenen Schauplätze durchaus abwechslungsreich, manchmal aber auch etwas zu sprunghaft.

Schwierige und komplexe Themen, jedoch ohne große Emotionen

Auch inhaltlich hat sich das Autorenduo einiges vorgenommen: großer Aufhänger ist wie eingangs erwähnt die Flüchtlingskrise, aber es geht auch um Kindesmissbrauch, illegalen Organhandel, Menschenhandel, osteuropäische Bandenkriminalität und zusätzlich natürlich noch die vielen privaten Baustellen der Figuren wie z.B. eine ungewollte Schwangerschaft oder ein drohender beruflicher Burnout. Für sich genommen sind alles mitunter spannende Themen und diese werden auch inhaltlich meist logisch verknüpft, allerdings bleibt bei diesem Potpourri überraschenderweise ein wenig die Emotionalität auf der Strecke. Selbst tragische und schockierende Momente werden eher nüchtern beschrieben und so wirken die Gräueltaten oft etwas zu distanziert, um eine gefühlsmäßige Nähe aufzubauen. Zudem fehlt dem Fall auch irgendwie der Aspekt des Miträtselns, denn die Fronten sind eigentlich recht früh in der Handlung geklärt, sodass es im Verlauf der Geschichte eher wenig Überraschungen gibt.

Guter Schwedenkrimi, der vielleicht etwas zu viel will

Insgesamt ist „Schlaflied“ zwar durchaus interessant und auch unterhaltsam, der vierte Krimi der Reihe ist aber nicht so ausgewogen wie zuletzt Band drei und so hat dieses Buch dann doch einige Längen und lässt den ganz großen Nervenkitzel oft vermissen. Die Figuren um Olivia Rönning, Tom Stilton, Mette Olsäter und ihr großes gemeinsames Umfeld sind nach wie vor spannend und werden charakterlich auch gut weiterentwickelt, es sind aber nun einmal nicht alle Perspektiven gleich interessant und so erfreulich es auch ist, dass bisherige Randfiguren wie die Obdachlose Muriel mehr Präsenz bekommen, so fällt z.B. dieser Handlungsstrang im Vergleich zu den polizeilichen Ermittlungen dann doch etwas ab und unterbricht immer ein wenig den Erzählfluss. Trotzdem ist „Schlaflied“ immer noch ein guter Schwedenkrimi und vor allem auch durch die thematische Brisanz empfehlenswert – gerade Fans der Reihe werden sicherlich nicht enttäuscht werden.

Schlaflied – Cilla & Rolf Börjlind (Rönning & Stilton #4)
  • Autor:
  • Original Titel: Sov du lilla videung
  • Reihe: Rönning & Stilton #4
  • Umfang: 576 Seiten
  • Verlag: btb
  • Erscheinungsdatum: 20. Februar 2017
  • Preis Broschiert 15,00 €/eBook 8,99 €
Cover:
Charaktere:
Story:
Atmosphäre:
Gesamt:
7/10
Fazit:
Auch der vierte Krimi von Cilla und Rolf Börjlind punktet wieder mit Themen von aktueller Brisanz und dem bunten Figurenmix, bei den vielen Perspektiven bleibt die Spannung aber diesmal etwas auf der Strecke, sodass der Roman insgesamt etwas aufgebläht wirkt.

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