Es gibt sicherlich gefährlichere Orte als die beschauliche 400-Seelen-Gemeinde Rodenäs im tiefsten Nordfriesland und so muss man als Elternteil wohl nicht unbedingt ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn man das eigene Kind mal für die Dauer eines Supermarkteinkaufs alleine und unbeaufsichtigt zu Hause zurücklässt – das denken sich auch Mutter Insa und Oma Grete, als sie für ein paar Erledigungen in den nächsten Ort aufbrechen. Bei ihnen im Dorf kennt schließlich jeder jeden und zudem gibt es dort ja selbst für einen neunjährigen Jungen kaum Gelegenheit, auf dumme Gedanken zu kommen. Zur gleichen Zeit wartet etwas über 1000 Kilometer entfernt Vater Bendix Steensen am Flughafen Heathrow auf seine Maschine, um sich nach einem dienstlichen Auslandsaufenthalt etwas unwillig dem gemeinsamen Familienbesuch bei seiner Mutter Grete anzuschließen, die er seit seinem Wegzug aus Rodenäs in den letzten Jahren sträflich vernachlässigt hat.

Von der Nordfriesland-Idylle zum Familienalbtraum

Ähnlich gemütlich wie das idyllische Friesland-Setting beginnt auch die Geschichte in „Wenn ich dich hole“, dem Thriller-Debüt der Radiomoderatorin und Autorin Anja Goerz, doch mit der Gemütlichkeit ist es schnell vorbei, als beide Elternteile sich plötzlich in unliebsamen Situationen wiederfinden: aufgrund der sich dramatisch verschlechternden Witterungsbedingungen fällt Bendix’ Rückflug vorerst fast sprichwörtlich ins Wasser, was für sich genommen noch kein allzu großes Problem wäre, wenn seine Frau Insa und deren Schwiegermutter bei einsetzendem Schneechaos nicht zeitgleich auf dem Heimweg in einen Unfall verwickelt würden. Zurück bleibt der 9-jährige Lewe ohne Aufsicht und die Geschichte steht fortan quasi unter dem Motto „Lewe allein zu Haus“. Während der Junge von Minute zu Minute unruhiger wird, telefoniert sich der Vater am Flughafen die Finger wund und versucht zum einen herauszufinden, wo Ehefrau und Mutter abgeblieben sind, zum anderen schnellstmöglich einen alternativen Heimweg zu finden und muss darüber hinaus zwischendurch auch immer wieder seinen Sprössling beruhigen.

Ein vorsichtiges Thriller-Debüt ohne große Wagnisse

Anja Goerz ist zwar keinesfalls neu in der Buchbranche, hat sich mit „Wenn ich dich hole“ aber zum ersten Mal ans Spannungsgenre gewagt, und die Unerfahrenheit auf diesem Gebiet merkt man dem Buch zum Teil auch deutlich an. Der einfache und manchmal etwas abgehackt wirkende Schreibstil ist sicherlich noch Geschmacksache, doch inhaltlich bewegt sich die Autorin auf zum Teil doch schon stark ausgetretenen Pfaden. So ist die Geschichte nicht nur recht einfach gestrickt und dadurch ziemlich vorhersehbar, Goerz bedient sich zudem auch einiger Klischees, die man in diesem Genre als erfahrener Krimi- und Thrillerleser mittlerweile etwas über hat. Da bricht dann z.B. die Handyverbindung im ungünstigsten Moment ab, das Opfer kommt nicht an die überlebenswichtige Dosis Insulin heran und so weiter. Das ist zwar kein großes Drama, sorgt aber hin und wieder für Augenrollen, denn das einzig Originelle an „Wenn ich dich hole“ sind streng genommen nur die ungewöhnlichen Namen der Protagonisten.

Pluspunkt Nr. 1: Das stimmungsvolle Setting

Trotz fehlender Risikobereitschaft und mangelnder Kreativität ist das Buch aber durchaus unterhaltsam und hat neben aller Kritik auch Stärken vorzuweisen. So kann Anja Goerz mit dem Schauplatz der Geschichte auf jeden Fall punkten, denn das eingeschneite nordfriesische Dorf gibt der Geschichte eine interessante Kulisse, die von der Autorin auch atmosphärisch präsentiert wird. Dazu gehört auch, dass die Charaktere zum Teil in norddeutscher Mundart kommunizieren, was gerade die Dialoge zu einer munteren und stimmungsvollen Angelegenheit macht.

Pluspunkt Nr. 2: Die tolle Hörbuch-Lesung

An dieser Stelle kommt auch der größte Trumpf von „Wenn ich dich hole“ ins Spiel, zumindest wenn man sich für die Hörbuchfassung entschieden hat: Sprecher Stefan Kaminski sorgt nämlich wie gewohnt mit seinem berühmten Stimmen-Morphing für Hörspiel-Atmosphäre und meistert auch das Plattdeutsch der Figuren mit Bravour, sodass aus der eher unspektakulären Story dank seiner Leistung (und ergänzt von ein paar kurzen von Lotte Ohm solide vorgetragenen Zwischenspielen) ein richtiges Hörerlebnis wird – auch wenn selbst er es nicht schafft, dass aus dem (aufgrund seiner Situation vielleicht verständlicherweise) gereizten und oft patzigem Bendix ein Sympathieträger wird. Da stört es dann z.B. auch nicht, dass überzeichnete Figuren wie der unfähige trottelige Dorfpolizist wenig zur Glaubwürdigkeit beitragen und die Geschichte teilweise Klamauk-artige Züge bekommt, sondern es passt plötzlich irgendwie zum Charme des Hörbuches. Hier macht sich dann doch ein wenig bemerkbar, dass Anja Goerz bisher eher mit Werken wie „Lara, Latex, Landlust“ oder „Mein Leben in 80B“ erfolgreich war und das Thriller-Genre für sie noch ein wenig Neuland zu sein scheint, wodurch der Geschichte an manchen Stellen offenbar etwas Seriosität fehlt.

Ein solider Psychothriller für Zwischendurch

Somit ist „Wenn ich dich hole“ auch aufgrund des eher geringen Umfangs insgesamt zwar ein durchaus unterhaltsames „Thrillerchen“, welches routinierte Spürnasen aufgrund der Vorhersehbarkeit und der sehr simpel konstruierten Handlung jedoch arg unterfordern dürfte.

Wenn ich dich hole
  • Autor:
  • Sprecher: Stefan Kaminski, Lotte Ohm
  • Länge: 5 Std. 12 Min. (ungekürzt)
  • Verlag: Der Audio Verlag
  • Erscheinungsdatum: 7. April 2017
  • Preis Audio-CD 13,49 €
Charaktere:
Story:
Atmosphäre:
Sprecher:
Gesamt:
7/10
Fazit:
Mit „Wenn ich dich hole“ legt Anja Goerz ein insgesamt ordentliches Thriller-Debüt hin, das vor allem mit stimmungsvoller Nordfriesland-Atmosphäre punktet, in Sachen Story aber zu einfach gestrickt ist um für echten Nervenkitzel zu sorgen. Einen Extra-Punkt gibt es für die tolle Lesung von Stefan Kaminski, die das Maximum aus der Vorlage herausholt und ein wahres Kopfkino erzeugt.

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