IMG_3897Ein junger Mann wird von Angstzuständen geplagt und von ihnen fast in den Wahnsinn getrieben. Ist er tatsächlich das Opfer einer großangelegten Verschwörung oder sind dies nur die Wahnvorstellungen eines gefährlichen Psychopathen?

Michael Shipman hat trotz seines jungen Alters von 20 Jahren bereits eine beträchtliche Krankengeschichte hinter sich. Seit Jahren ist er wegen Depressionen und Angstzuständen in Behandlung und hat sogar bereits einen zweiwöchigen Psychiatrieaufenthalt hinter sich. Als er dann aber in einem Krankenhaus erwacht und ihm in seiner Erinnerung zwei Wochen komplett fehlen, spitzt sich seine Situation dramatisch zu. Er erinnert sich nur vage an eine Verfolgung, die schließlich zu einem Sturz und damit zu seiner aktuellen Situation geführt haben. Doch so groß seine Gedächtnislücken auch sind, einer Sache ist sich Michael absolut sicher: Er muss so schnell wie möglich aus dem Krankenhaus verschwinden, damit seine Jäger seine Spur nicht aufnehmen können.

Die Angst vor den „Gesichtslosen“ – Paranoia oder Realität?

Die Tatsache, dass er seinen Ärzten aber gegenüber erwähnt, dass seine Verfolger ihm als gesichtslose Männer erscheinen, sorgt aber für zwei unangenehme Konsequenzen: Zum einen wird Michaels geistige Gesundheit noch weiter in Frage gestellt und zum anderen landet der 20-Jährige plötzlich auch mittem im Fokus einer Mordermittlung. In der Stadt treibt nämlich seit geraumer Zeit ein brutaler Serienmörder sein Unwesen, der seine Opfer so stark verunstaltet, dass ihre Gesichter anschließend nicht mehr zu erkennen sind. Ist es möglich, dass Michael für diese Verbrechen verantwortlich ist oder sind seine Visionen von den Gesichtslosen reiner Zufall?

Ersteindruck von der Hauptfigur: psychisches Wrack

„The Hollow City“ von Dan Wells startet gleich mit einem großen Aufreger, denn der Autor nimmt seine Leser im Prolog direkt mit zum neuesten Tatort der Mordserie, der nicht nur für die zuständigen Ermittler eine große Überraschung parat hat. Anschließend war es das aber auch schon mehr oder weniger mit der Serienkiller-Story, denn diese nimmt im Folgenden eher eine Nebenrolle ein. Vielmehr liegt der Fokus auf der Figur des Michael Shipman und dessen geistiger Verfassung. Meine erste Begegnung mit der Hauptfigur hat bei mir einen ziemlich klaren ersten Eindruck hinterlassen: „Was für ein Spinner“. Ein Mann, der mit Gedächtnisverlust in einem Krankenhaus aufwacht, panisch von gesichtslosen Verfolgern spricht und große Angst vor jeder Art von elektronischen Geräten hat, lässt eigentlich nur eine logische Schlussfolgerung zu: Michael Shipman hat große psychische Probleme und kann nicht mehr zwischen Realität und seinen Visionen unterscheiden.

Was ist, wenn Michael Shipman Recht hat?

Von daher erscheinen die Reaktionen der behandelnden Ärzte auch zunächst absolut nachvollziehbar, zumal Michael nicht nur sehr paranoid auftritt, sondern gegenüber dem Krankenhauspersonal auch noch handgreiflich wird. Folglich wird er erneut in die Psychiatrie zwangseingewiesen und mit Medikamenten behandelt, die ihm wieder Klarheit verschaffen sollen. Seine möglichen Verwicklungen in die Mordserie werden hier zwar angedeutet, aber kaum ernsthaft thematisiert. Nach und nach habe ich mich beim weiteren Lesen aber plötzlich immer öfter dabei ertappt, wie ich mich mehr und mehr auf die Seite von Michael geschlagen habe. Zu beharrlich sind seine Versuche, sein Umfeld von seinen Theorien zu überzeugen und man beginnt fast automatisch selbst, seinen ständig wiederholten Ausführungen Glauben zu schenken, zumal er abgesehen von seinen Macken den Eindruck eines durchaus intelligenten Mannes erweckt. Was ist, wenn hinter seiner vermeintlichen Paranoia wirklich ein Funken Wahrheit steckt und Michael das Opfer einer Verschwörung ist? Das wirft gleichzeitig auch die Frage auf, warum Michael ins Visier der Gesichtslosen gelangt sein könnte, denn irgendeinen Nutzen muss er für seine Verfolger schließlich haben. Außerdem sucht man als Leser hartnäckig nach einer Lösung, die eine glaubwürdige Erklärung für Michaels scheinbar verrückte Ideen liefern könnte.

Die Grenzen zwischen Realität und Einbildung verschwimmen

Dan Wells schafft es auf beeindruckende Art und Weise, den Wahnsinn seiner Hauptfigur förmlich auf den Leser überspringen zu lassen. Man ist selbst kaum noch in der Lage zu erkennen, was nun wirklich der Realität entspricht und was allein Michaels Fantasie entsprungen ist – was durch dessen medikamentöse Behandlung noch weiter erschwert wird. Helfen ihm die Arzneimittel tatsächlich beim Schritt zurück in die Normalität oder sollen damit nur seine verzweifelten Anstrengungen im Keim erstickt werden, damit Michael ein leichteres Opfer ist? Dieses permanente Hinterfragen der Ereignisse macht „The Hollow City“ unglaublich spannend, außerdem bleibt da zudem ja auch noch die Geschichte mit den geheimnisvollen Serienmorden, die weitere nagende Fragen aufwirft.

Sehr hohe Identifikation mit der Hauptfigur

Großen Gewinn zieht die Geschichte zudem aus der gewählten Erzählweise, denn Dan Wells schildert die Handlung komplett aus der Sicht seines Protagonisten, sodass die Darstellung die gesamte Zeit über natürlich sehr subjektiv ist. Das ist aber auch nötig, um in die Gedankenwelt Michaels eintauchen und mit ihm solidarisieren zu können, denn nur dadurch kann „The Hollow City“ so gut funktionieren. Bei einer objektiveren Perspektive wäre dieses faszinierende Verschmelzen mit der Hauptfigur praktisch ausgeschlossen.

Gewöhnungsbedürftiges Ende

Dann gibt es da aber noch eine Sache, die angesprochen werden muss: Das Ende. Ich habe beim Lesen wirklich einige Theorien für die bizarren Ereignisse angestellt, doch eine derartige Auflösung, wie sie Dan Wells schließlich liefert, habe ich zu keiner Zeit in Betracht gezogen. Ich musste auch nach dem Ende des Buches noch eine Weile darüber nachdenken, wie ich diesen Schluss nun einordnen sollte. Einerseits ist mir Wells‘ Erklärung fast ein wenig zu abwegig, auf der anderen Seite ist diese jedoch in sich absolut schlüssig und passt somit auch zum Vorangegangenen. Man kann darüber sicherlich streiten und es gibt bestimmt viele, die mit dieser Auflösung nicht zufrieden sind – eines ist der Schluss aber ohne jeden Zweifel: sehr originell. Freunde klassischer Thriller mag „The Hollow City“ daher vielleicht vor den Kopf stoßen, wer aber für Überraschungen und eher unkonventionelle Wege offen ist, dem sei das Buch hiermit wärmstens ans Herz gelegt.

Fazit:
Hochspannender und verstörender Roman, der die Grenzen zwischen Realität und Einbildung verschwimmen lässt und den Leser selbst an den Rand des Wahnsinns treibt. Sehr intensives Leseerlebnis (9/10)!

Buchcover
Autor: Dan Wells; Deutscher Titel: Du stirbst zuerst; Umfang: 333 Seiten; Verlag: Tor Books; Erscheinungsdatum: 03. Juli 2012; Preis: Gebundene Ausgabe 19,40 €/eBook 14,49 €.

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3 Antworten zu diesem Beitrag

  • oh, das muss ich auch unbedingt noch lesen. Ich fand ja Partials und Fragments von ihm ganz großartig!

    • „The Hollow City“ war mein erster Dan-Wells-Roman und hat definitiv Lust auf mehr gemacht. Ich habe hier auch noch Mr. Monster auf dem Sub liegen, da müsste ich mir aber vorher noch den Vorgänger besorgen und lesen 😉

Pings: