In seiner Jahrzehnte umfassenden literarischen Karriere hat Stephen King unzählige denkwürdige Charaktere erschaffen, doch wenn man seine Leser:innen nach ihrem Favoriten fragen würde, so würde sich gerade unter jüngeren Fans des Bestsellerautors vermutlich ein klarer Publikumsliebling herauskristallisieren: Holly Gibney. Auch ihrem Schöpfer scheint die etwas verschroben wirkende Ermittlerin besonders am Herzen zu liegen, denn jene bekommt in Kings neuestem Roman ihren bereits sechsten Auftritt im Rampenlicht und ist diesmal sogar (verdiente) Namensgeberin des prägnanten Buchtitels: “Holly”.

Mörderjagd unter erschwerten Voraussetzungen

Diese geballte Aufmerksamkeit wäre der insgesamt doch eher introvertierten Hauptfigur vermutlich gar nicht mal so recht, doch seitdem ihr Mentor Bill Hodges – Held der “Mr. Mercedes”-Trilogie – das Zeitliche gesegnet hat, liegt es eben an Holly, die gemeinsam gegründete Detektei “Finders Keepers” weiterzuführen. Dies tut sie diesmal jedoch unter erschwerten Bedingungen, denn Stephen King schreibt hier das Jahr 2021 und so steht die Geschichte folgerichtig unter dem großen Einfluss der COVID19-Pandemie. Dieser zeigt sich vor allem bei der Protagonistin selbst, denn Holly hat gerade erst ihre Mutter an das Virus verloren – ein früher Tod, der jedoch vermeidbar gewesen wäre, denn die militante Trump-Anhängerin und Corona-Leugnerin hat sich ausgerechnet auf einer Impfgegner-Demonstration die tödliche Ansteckung eingefangen. Tja.

Zutritt nur mit Maske, Impfzertifikat und dem richtigen Parteibuch

Wer sich vom Thema “COVID” in irgendeiner Weise unangenehm berührt fühlt, der sollte um “Holly” übrigens besser einen großen Bogen machen, denn auch im zweiten Jahr der Pandemie sind deren Auswirkungen in der Handlung noch omnipräsent. Nahezu jedes Gespräch beginnt mit einer Abfrage des Impfstatus, die Hauptfigur bestreitet das gesamte Buch als bekennende Trägerin eines Mund-Nasen-Schutzes und Hollys Mutter bleibt auch nicht die Einzige, die von dem Virus erwischt wird. Die persönliche Haltung des Autors zu Schutzmaßnahmen und Impfungen zeigt sich dabei früh am skurrilen Tod der unbelehrbaren Charlotte Gibney und zieht sich ebenfalls durch den kompletten Roman. Zu Stephen Kings Ansichten kann hier natürlich jeder stehen wie er möchte, etwas weniger Schwarz und Weiß und stattdessen ein paar mehr Grautöne hätten der Geschichte aber gutgetan, denn die Guten und Bösen lassen sich hier meist auf den ersten Blick anhand von (fehlender) Maske, (fehlender) Impfung oder (republikanischer) Parteizugehörigkeit erkennen. Steht man ideologisch eher auf der Seite des Autors, dann ist dies mitunter zwar durchaus amüsant, wird allerdings selbst dann im Verlauf des nicht gerade kurzen Romans aufgrund der ständigen Hervorhebung aber auch zunehmend anstrengender.

Nicht alle Entscheidungen des Autors zahlen sich aus

Auch die Tatsache, dass King die Tatverantwortlichen in diesem Buch direkt zu Beginn enthüllt, darf mit gemischten Gefühlen betrachtet werden. Zwar liefert die Perspektive des Bösen immer wieder (im wahrsten Sinne) unappetitliche Einblicke in die Täterpsyche, zugleich nimmt es aber auch den Nervenkitzel des Ungewissen aus der Ermittlung. Dennoch ist “Holly” insgesamt spannend und kurzweilig geschrieben, von den mittlerweile sechs Geschichten mit Beteiligung der ungewöhnlichen Ermittlerin ist aber ausgerechnet die prominent mit ihrem Namen betitelte vielleicht die schwächste. Das liegt zu großen Teilen daran, dass der Autor sich etwas zu sehr in Nebenkriegsschauplätzen wie der Corona-Diskussion oder den Unternehmungen der unterstützenden Figuren verliert, welche zum eigentlichen Fall nicht wirklich Stichhaltiges beitragen und die Handlung lediglich ausschmücken. Zudem tut es der Geschichte auch nicht unbedingt gut, dass Holly – zum Teil auch gezwungen durch die Umstände – in erster Linie solo unterwegs ist und weitestgehend nur im Zusammenspiel mit von ihr kritisch betrachteten Personen ihren Charakter präsentieren kann. So kommt zwar ihre Durchsetzungsfähigkeit und ihre Prinzipientreue zum Ausdruck, es fehlen aber die “goldigen” Momente, mit denen Holly seinerzeit gemeinsam mit Bill Hodges die Herzen ihres Publikums erobert hat.

Ein spannender Thriller, aber nicht Hollys bester Auftritt

So ist man am Ende dieses Romans ein wenig hin und hergerissen zwischen gelungener Unterhaltung und verpassten Chancen, denn auch wenn man sich in dieser Geschichte vielleicht einige Dinge anders gewünscht hätte, so bekommt man hier dennoch eine überwiegend packende Story geboten, die eine lieb gewonnene Figur in einer Zeit voller gesellschaftlicher und persönlicher Herausforderungen zeigt. Diese Rahmenbedingungen bringen dann eben vielleicht nicht immer die Seiten in der Protagonistin hervor, die man an ihr am liebsten sieht, die aber nunmal dennoch zum Teil ihres Weges gehören. Und somit bleibt trotz allem zu hoffen, dass der gemeinsame Weg von Stephen King und Holly Gibney hiermit noch nicht zu Ende ist.

Holly (Holly Gibney #3) – Stephen King
  • Autor:
  • Sprecher: David Nathan
  • Original Titel: Holly
  • Reihe: Holly Gibney #3
  • Länge: 18 Std. 41 Min. (ungekürzt)
  • Verlag: Random House Audio, Deutschland
  • Erscheinungsdatum: 18. September 2023
  • Preis 9,95 € im Audible-Flexi-Abo
Cover:
Charaktere:
Story:
Atmosphäre:
Gesamt:
7/10
Fazit:
Spannender Thriller, der etwas zu sehr unter dem Eindruck der Corona-Pandemie steht und ein wenig zu viel Last auf die Hauptfigur überträgt.

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