Man muss kein Vielleser im (Psycho-)Thriller-Genre sein, um schon mal über Paula Hawkins‘ „Girl on the Train“ gestolpert zu sein – schließlich grüßt der 2015 erschienene Bestseller-Roman der britischen Schriftstellerin zum einen auch heute noch häufig prominent von den Regalen von Buchhandlungen und Bibliotheken, zum anderen hat sicherlich auch die sehr erfolgreiche Verfilmung der Geschichte (u.a. mit Hollywoodstar Emily Blunt) zur großen Popularität des Buches beigetragen. Wie so oft sorgt dies natürlich für eine große Erwartungshaltung für nachfolgende Werke, die fairerweise meist kaum eine Chance haben, an den ursprünglichen Erfolg des ersten Bestsellers anzuknüpfen. Im Fall von Paula Hawkins heißt dieser Folgeroman „Into the Water“ und wird in der deutschen Übersetzung ergänzt vom etwas überflüssigen (und auch inhaltlich nicht ganz stimmigen) Untertitel „Traue keinem. Auch nicht dir selbst.“
Ein Ort, um unbequeme Frauen loszuwerden
Die Autorin nimmt ihre Leser:innen dabei mit in die englische Provinz, nämlich in das (fiktive) Städtchen Beckford in der Grafschaft Northumberland. Der Ort ist zwar nur ein kleiner Fleck auf der Landkarte, zeichnet sich aber vor allem dadurch aus, dass in der Vergangenheit Beckfords immer wieder Frauen auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen sind. Die teilweise Jahrhunderte zurückliegenden Todesfälle haben eines gemeinsam: alle Frauen starben in der gleichen Flussbiegung des durch die Gemeinde verlaufenden Gewässers, die seither unter dem schicksalsvollen Namen „Drowning Pool“ bekannt ist – ein Ort, „um umbequeme Frauen loszuwerden“. Zu Beginn von Paula Hawkins‘ Geschichte hat der Fluss wieder mal ein Opfer gefordert, diesmal die Fotografin Nel Abbott, und Nels Schwester Jules kehrt daraufhin nach Beckford zurück, um den Nachlass der Verstorbenen zu regeln und sich um deren Tochter Lena zu kümmern.
Unzählige Perspektiven erschweren den Einstieg
Der Einstieg in „Into the Water“ gestaltet sich dabei etwas mühsam, denn die Autorin schildert die Geschehnisse abwechselnd aus den Perspektiven von fast einem Dutzend Charakteren, von denen Jules Abbott als Außenstehende zwar so etwas wie die Hauptrolle einnimmt und die Leser:innen durch die Handlung führt, dabei aber immer wieder von anderen Bewohnern Beckfords „unterbrochen“ wird. Zudem wechselt Hawkins auch noch etwas willkürlich wirkend zwischen Ich-Perspektive und der dritten Person, was die Orientierung manchmal zusätzlich erschwert. Es dauert folglich etwas, sich in dem komplexen und mitunter auch komplizierten Figurengeflecht der Gemeinde zurechtzufinden, eines wird aber dennoch schnell klar: um die verstorbene Nel Abbott trauert von den beteiligten Personen kaum jemand.
Viele Leichen in vielen Kellern
Warum das so ist, versuchen manche der Charaktere auf den insgesamt 480 Seiten herauszufinden, darunter z.B. Nels bereits erwähnte Schwester Jules, die aufmüpfig und unnahbar wirkende Tochter Lena, eine kürzlich nach Beckford versetzte Polizistin oder eine angebliche Hellseherin, die von den meisten als schrullige Dorfhexe geächtet wird. Fast jede der involvierten Personen hat dabei in der Regel irgendein düsteres Geheimnis oder wirft mit rätselhaften Andeutungen um sich, was offenkundig für Spannung sorgen soll, in der Umsetzung manchmal aber eher ermüdend ist und mitunter etwas ausartet. Dazu passt bezeichnenderweise das Zitat einer Figur aus dem Buch: „Wie soll man bei all den Leichen hier den Überblick behalten? Hier geht es zu wie bei Inspektor Barnaby, nur eben mit Unfällen und Suiziden und grotesken historischen frauenfeindlichen Ertränkungsritualen, statt dass die Leute ins Gülleloch stürzen oder sich gegenseitig eins über den Schädel ziehen.“
Der Fluch des zweiten Buches
Dies beschreibt die Geschichte insgesamt eigentlich ganz treffend: „Into the Water“ ist zwar nicht ganz so seicht wie der durchschnittliche Sonntagabendkrimi im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, ist aber in gewisser Weise einer dieser Psychothriller, in dem eigentlich alle Figuren mehr oder weniger unsympathisch sind, jeder seine eigene Leiche im Keller hat und es am Ende des Tages im Prinzip egal ist, wer nun letztlich der oder die Täter:in ist, weil eigentlich kaum jemand unbeschadet aus der Geschichte hervorgeht. Somit fällt auch hier die Auflösung der Handlung etwas beliebig aus und man hat kurz nach dem Zuschlagen des Buches auch schon wieder weitestgehend vergessen, wer von den unzähligen Charakteren hier gerade als Mörder:in entlarvt wurde. Paula Hawkins‘ Werk ist dabei keinesfalls ein schlechtes Buch, ganz im Gegenteil: es ist durchweg unterhaltsam, auf einem soliden Spannungsniveau, mit einem interessanten Setting und einer stellenweise fast schon mystischen Atmosphäre, die von dem mythenumwobenen „Drowning Pool“ ausgeht. Trotzdem schlägt auch hier ein wenig der Fluch des zweiten Buches zu, denn insgesamt bleibt „Into the Water“ letztlich in Sachen Spannung und Originalität doch deutlich hinter dem Mega-Erfolg „Girl on the Train“ zurück. Lesenswert ist dieser Psychothriller aber dennoch, man sollte jedoch die eigenen Erwartungen vorher besser ein wenig zurückschrauben.
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7/10