Erst im Sommer 2019 gelang dem im englischen Leeds geborenen und immer noch dort lebenden Autor Alex North mit seinem Roman „Der Kinderflüsterer“ der Durchbruch als Schriftsteller, kaum ein Jahr später steht bereits der Nachfolger „Der Schattenmörder“ in den Regalen der Buchhändler. Die Erwartungen an das Buch dürften dabei hoch sein, denn das Debüt wurde unter anderem als „Der aufregendste Spannungsroman des Jahres“ bzw. sogar als „Der beste Spannungsroman der letzten zehn Jahre“ gefeiert. Das dürfte sicherlich etwas hoch gegriffen gewesen sein und vielen anderen Krimis und Thrillern der letzten Dekade Unrecht tun, nichtsdestotrotz war „Der Kinderflüsterer“ ein packendes Thriller-Drama, welches insgesamt durchaus verdient von Leser*innen und Presse überwiegend hochgelobt wurde.

Keine Fortsetzung, aber ein Wiedersehen mit alten Bekannten

Was einmal gut geklappt hat, klappt bestimmt auch ein zweites Mal – das könnte sich Alex North beim Schreiben von „Der Schattenmörder“ womöglich gedacht haben, denn sein neues Werk weist doch einige Gemeinsamkeiten zum Erstling auf: erneut spielt die Geschichte in einer englischen Kleinstadt, die irgendwie aus der Zeit gefallen zu sein scheint, erneut geht es um einen alten Fall, der den Ort und die an den Ermittlungen beteiligten Personen für immer verändert hat und erneut gibt es ein Rätsel um eine seit Jahren verschwundene Person. Das klingt erst einmal wenig originell, zumal der Autor für Leser*innen seines Debütromans sogar noch für ein doppeltes Wiedersehen sorgt: zum einen spielt der dortige Schauplatz, das fiktive Städtchen Featherbank, auch diesmal eine kleine Nebenrolle, zum anderen ist auch eine der Figuren eine alte Bekannte, nämlich Detective Inspector Amanda Beck, die auch diesmal in den Fall verwickelt wird. Allerdings gilt: „Der Schattenmörder“ ist keine Fortsetzung, sondern ein in sich abgeschlossener eigenständiger Roman, der sozusagen lediglich im gleichen Mikrokosmos spielt.

Rückkehr in eine ungeliebte Vergangenheit

DI Beck ist auch nicht die Hauptfigur dieser Geschichte, denn diese Rolle kommt stattdessen dem Englischlehrer Paul Adams zu, der seiner Heimatstadt Gritten vor 25 Jahren eigentlich für immer den Rücken kehren wollte, um frei von den Kleinstadt-Zwängen seinen Traum vom Schreiben zu verwirklichen. Ein Vierteljahrhundert später hat es gerade mal zur Position als Leiter eines „Creative Writing“-Kurses an der Universität gereicht und dann muss er auch noch die unfreiwillige Rückkehr nach Gritten antreten, da seine Mutter dort im Sterben liegt. Nicht nur das Wiedersehen mit dem letzten Überbleibsel seiner kümmerlichen Familie sorgt bei Paul für Bauchschmerzen, die Ankunft in seiner alten Heimat beschwört auch ein dunkles Kapitel seiner Vergangenheit wieder herauf, mit dem er eigentlich für immer abgeschlossen hatte: vor 25 Jahren kam es in Gritten nämlich zu einem brutalen Verbrechen, als zwei seiner Schulkameraden einen grausamen Mord begingen. Einer der Jungen konnte kurz nach der Tat verhaftet werden, der andere blieb spurlos verschwunden, doch auch mehr als zwei Jahrzehnte nach seinem letzten Lebenszeichen sorgt der Name „Charlie Crabtree“ immer noch für Angst und eine morbide Faszination in der Region – eine Faszination, die offenbar auch nach all den Jahren noch tödliche Ausmaße annimmt…

Kein Thriller, sondern ein „atmosphärischer Spannungsroman“

Wie schon bei „Der Kinderflüsterer“ so ist auch die Vermarktung von „Der Schattenmörder“ womöglich ein wenig irreführend, schließlich lassen Buchtitel, Covergestaltung, Klappentext und Kritikerstimmen mitunter auf einen brutalen Thriller schließen. Wer aber genau hinschaut wird erkennen, dass auch diesmal auf dem Buchumschlag weder von „Kriminalroman“ noch von „Thriller“ die Rede ist, stattdessen steht dort fast schon versteckt das eigentlich wenig aussagekräftige Wörtchen „Roman“. Das mag bescheiden wirken, beschreibt dieses Buch aber recht treffend, denn Alex North bleibt seiner Linie treu und hat erneut ein Werk abgeliefert, dass sich wohl am besten als „atmosphärischer Spannungsroman“ beschreiben lässt. Trotz der klassischen Zutaten ist „Der Schattenmörder“ nämlich kein typischer Thriller, dafür liegt der Schwerpunkt zu wenig auf dem tatsächlichen Kriminalfall und auch das Erzähltempo ist eher ungewöhnlich ruhig. Ja, auch hier gibt es zwar wieder eine polizeiliche Ermittlung in einem aktuellen Mordfall, trotzdem ist diese Geschichte fast schon nebensächlich.

Ein Teenager als das personifizierte Böse

Wenn man das Buch unbedingt in ein Genre pressen will, dann vielleicht am ehesten noch in die Kategorie „Horror“, was auch zur Entstehungsgeschichte dieses Romans passt. Laut Aussage des Autors ist „Der Schattenmörder“ nämlich inspiriert vom Mythos um den „Slender Man“, ein fiktives und im Internet entstandenes unheimliches Wesen – ein Mythos, der in den USA sogar beinahe zu einem Mord geführt hätte, als zwei Mädchen eine ihrer Freundinnen töten und dem „Slender Man“ opfern wollten. Der „Slender Man“ in Alex Norths Geschichte trägt den Namen „Charlie Crabtree“ und ist der Haupttäter im 25 Jahre zurückliegenden Mordfall, dessen rätselhaftes Verschwinden nach der Tat in einschlägigen Internetforen einen ähnlichen Kult erzeugt und im Laufe der Jahre offenbar sogar einige Nachahmer inspiriert hat. Dem Autor gelingt es hier auf bemerkenswerte Weise, die Figur als das personifizierte Böse darzustellen, ohne dass Charlie selbst gewalttätig in Erscheinung tritt. Doch durch eine Mischung aus Rückblenden und Gerüchten erzeugt North eine regelrecht mythische Aura um den einstigen Teenager, sodass Crabtree fast schon wie ein überirdisches böses Wesen wirkt. Atmosphärisch ist das wirklich stark, auch wenn die Mittel zum Erzeugen dieser intensiven Stimmung mit Themen wie Traumwanderungen vielleicht etwas gewöhnungsbedürftig wird.

Spannend, stimmungsvoll und melancholisch

Wer einen reißerischen Thriller erwartet, wird mit „Der Schattenmörder“ daher vermutlich nur bedingt glücklich werden. Dabei hat das Buch ohne Frage absolute Pageturner-Qualitäten und ist durchweg spannend, der Nervenkitzel ist hier aber eher subtiler Natur und wird vor allem durch eine unheimliche Atmosphäre statt durch actionreiche Szenen oder gar besonders blutige Gewaltdarstellungen erzeugt. Viele Passagen dieser Geschichte sind sogar eher melancholisch und stellen die mitunter schwierigen Familiengeschichten der Protagonisten in den Vordergrund. Dazu passt es, dass die Story fast schon beiläufig aufgeklärt wird, nicht alle offenen Fragen bis ins kleinste Detail beantwortet werden und der Autor auch um die durchaus überraschende Auflösung wenig Spektakel macht. Wer sich darauf einlässt und mit der richtigen Erwartungshaltung an das Buch herangeht, bekommt mit „Der Schattenmörder“ dann zwar wie erwähnt keinen typischen Thriller, aber eben einen packenden atmosphärischen Spannungsroman geboten.

Der Schattenmörder – Alex North
  • Autor:
  • Original Titel: The Shadow Friend
  • Umfang: 416 Seiten
  • Verlag: Blanvalet
  • Erscheinungsdatum: 17. August 2020
  • Preis Broschiert 13,00 €/eBook 9,99 €
Cover:
Charaktere:
Story:
Atmosphäre:
Gesamt:
8/10
Fazit:
Auch in seinem zweiten Roman setzt Alex North eher auf dichte Atmosphäre und das Innenleben seiner Charaktere statt auf reißerische Action oder blutige Gewalt – ein Konzept, das erneut gut funktioniert und trotz ruhiger Erzählweise erneut einen spannenden und stimmungsvollen Pageturner zum Ergebnis hat.

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