Für viele Fans skandinavischer Kriminalromane sind die beiden Autoren Thomas Enger und Jørn Lier Horst bereits so etwas wie „alte Bekannte“. Ersterer hat seit 2010 mit der fünfteiligen Romanreihe um den Osloer Journalisten Henning Juul für Aufsehen gesorgt, letzterer ist sogar schon seit 2004 im Krimigeschäft und hat inzwischen mehr als ein Dutzend Romane mit seinem Ermittler William Wisting geschrieben, darunter zuletzt die neue „Cold Cases“-Serie, eine Art Spin-Off der bisherigen Wisting-Krimis, jedoch mit gleicher Hauptfigur. Von beiden Autoren darf man annehmen, dass sie wissen, was sie tun, denn Thomas Enger ist ausgebildeter Journalist und Jørn Lier Horst sogar ehemaliger Kriminalkommissar bei der norwegischen Polizei. Nicht die schlechtesten Voraussetzungen also für ein gemeinsames Buchprojekt und so dürften Krimifans durchaus hohe Erwartungen an „Blutzahl“ haben, den Auftaktband ihrer neuen Thriller-Reihe.
Ein Kriminalkommisar und eine Promi-Bloggerin ermitteln
Passend zur doppelten Autorenpower gibt es auch zwei Hauptfiguren: der männliche Vertreter des Ermittlerduos kommt für das Genre eher gewöhnlich daher, denn Alexander Blix arbeitet beim Dezernat für Gewaltverbrechen in Oslo, und zwar mit bisher eher durchschnittlich erfolgreicher Karriere. Das dürfte aber weniger an fehlender Kompetenz liegen sondern eher an mangelnder Anpassungsfähigkeit und gewissen selbst verschafften Freiräumen bei seinen Ermittlungsmethoden – und nicht zuletzt einem tragisch verlaufenen Einsatz in seiner Zeit als junger Polizist, welcher seiner Polizeilaufbahn nachhaltig geschadet hat. Während Blix also wie eine recht typische Figur eines Skandinavienkrimis wirkt, sieht es bei der zweiten Protagonistin schon anders aus, denn Emma Ramm verfügt über keine polizeiliche Ausbildung und ist eigentlich Promibloggerin, die für ein Online-Magazin normalerweise den neuesten Gerüchten rund um die norwegische VIP-Szene hinterherjagt – und das zwar durchaus erfolgreich, eine richtige Journalistenkarriere hat sich die junge Reporterin aber eigentlich doch etwas anders und sinnvoller vorgestellt.
Rätsel um das Verschwinden einer prominenten Ex-Sportlerin
Was könnte also der gemeinsame Nenner eines Ermittlers und einer Promi-Bloggerin sein? Richtig, ein in der Öffentlichkeit bekanntes Verbrechensopfer. Diese Rolle nimmt in „Blutzahl“ die ehemalige Leistungssportlerin Sonja Nordstrøm ein, die nach ihrer aktiven Karriere nun mit einem Enthüllungsbuch für Schlagzeilen sorgen wollte – inklusive angeblicher Missbrauchsvorwürfe gegen einen früheren Betreuer. Da sich die erfolgsbesessene und emotional als eher unterkühlt geltende Ex-Sportlerin auch sonst wenig Freunde gemacht hat, deutet vieles auf ein Verbrechen hin, als Nordstrøm unerwartet nicht zur Premiere ihres Buches auftaucht und auch auf keine Kontaktversuche reagiert. Gefundenes Fressen also für Emma Ramm, für die der Vermisstenfall der bekannten Persönlichkeit zu einem echten journalistischen Coup werden und ihrer Karriere als Reporterin endlich einen Schub verpassen könnte – erst recht, als Emma auch noch selbst zur Zeugin wird und die Wege von Alexander Blix kreuzt…
Ungewöhnliches, aber interessantes Ermittlerduo
Man merkt beim Lesen früh, dass hier zwei Routiniers am Werk sind, denn „Blutzahl“ beginnt schon im Prolog spannungsvoll und knüpft dann auch bei der Haupthandlung durch einen flotten Einstieg und kurze, knackige Kapitel mit wechselnden Perspektiven daran an. Die beiden Protagonisten sind trotz ihrer vermeintlich negativ behafteten Stempel als „Polizei-Querkopf“ bzw. „Paparazzi-Bloggerin“ recht umgänglich und sympathisch, wenngleich beide insgesamt gerne noch etwas prägnanter ausgearbeitet sein dürften. So ist das Spannendste an Blix seine Vergangenheit und der Funfact, dass seine Tochter Kandidatin einer „Big Brother“-artigen Realityshow im norwegischen Fernsehen ist, während Emma etwas zu sehr über ihr kompliziertes Liebesleben und geheimnisvolle Andeutungen über ihren Gesundheitszustand definiert wird. In der Praxis wirken beide jedoch etwas gewöhnlich – wie erwähnt durchaus sympathisch, aber irgendwie auch noch ein wenig austauschbar. Als ungleiches und zumindest aus Sicht von Blix wohl auch eher unfreiwilliges Ermittlerteam haben die beiden aber sicherlich Potenzial für weitere gemeinsame Auftritte.
Spannender Fall mit schwächelnder Auflösung
Auch der Kriminalfall selbst bringt ein gutes Unterhaltungsniveau mit und hält die Spannung durch verschiedene Handlungsstränge und zudem einen fleißigen Täter hoch. Hier zeigt sich erneut die Erfahrung der beiden erfolgreichen Autoren, denn handwerklich gibt es an „Blutzahl“ wenig auszusetzen und Thomas Enger und Jørn Lier Horst wissen genau, wie sie z.B. mit clever gesetzten Cliffhangern mit der Neugier ihres Publikums spielen können. So steigert sich der Plot stetig bis in einen unerwartet spektakulären Showdown hinein, welcher die Leser*innen jedoch möglicherweise mit etwas gemischten Gefühlen zurücklässt. Grund dafür ist die Auflösung, die auf der einen Seite zwar zu überraschen weiß, allerdings nicht durchweg überzeugen kann. Ein/e unerwartete/r Täter/in alleine reicht eben nicht aus, dazu sollte auch dessen/deren Motivation für seine/ihre Taten nachvollziehbar sein und hier offenbart „Blutzahl“ seine große Schwachstelle: so raffiniert die Vorgehensweise auch ist, so konstruiert wirken dann die Gründe für die Verbrechen, die doch etwas willkürlich erscheinen und als Antrieb für eine derart ausgeklügelte Gewaltserie, wie Enger und Lier Horst sie ihren Leser*innen hier präsentieren, letztlich nicht glaubwürdig genug sind.
Vielversprechender Auftakt mit leichten Abzügen
Im Abgang bleibt also ein leicht fader Beigeschmack, der aber den ansonsten sehr positiven Gesamteindruck dieser Kooperation zweier norwegischer Krimigrößen nur gering trüben kann. Abgesehen von der etwas schwächelnden Auflösung überzeugt „Blutzahl“ nämlich als spannender und kurzweiliger Thriller mit zwei sympathischen Hauptfiguren, die in Zukunft jedoch noch etwas mehr Profil vertragen könnten. Dennoch ist dies ein Auftakt, der Lust auf mehr macht, und erfreulicherweise müssen Fans der beiden Autoren nicht lange auf Nachschub warten, denn die beiden Nachfolgebände sollen bereits innerhalb eines knappen Jahres nach Erscheinen von Band 1 auf den Markt kommen – „Blutnebel“ schon im Februar 2021 und der noch unbetitelte dritte Teil im kommenden Herbst. Oslo kommt also so schnell nicht zur Ruhe…
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Charaktere: | |
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8/10