Was macht einen Menschen zum Mörder? Diese Frage stellen sich nicht nur Psychologen und Kriminalisten seit Jahrhunderten und gerade in der heutigen Zeit besonders immer dann, wenn man in den Medien mal wieder mit einer Schreckensmeldung über ein neuerliches grausames Verbrechen konfrontiert wird. Werden die Täter bereits böse geboren, haben Erziehung und Umfeld einen Einfluss auf die Entwicklung vom „normalen“ Bürger zum Straftäter, ist es eine Mischung von mehreren Faktoren oder liegt die Ursache dafür womöglich sogar in den Genen oder anderen medizinischen Veranlagungen?

Von der jungen Journalistin zur kaltblütigen Mörderin?

In gewisser Weise ist diese Frage nach der Entstehung von Mördern auch der Aufhänger für den dritten Roman der Schriftstellerin Melanie Raabe, denn innerhalb von knapp 400 Seiten soll in „Der Schatten“ aus der jungen Journalistin und selbst ernannten Gerechtigskeitsfanatikerin Norah ein Mensch werden, der einen anderen Menschen kaltblütig tötet. „Am 11. Februar wirst du am Prater einen Mann namens Arthur Grimm töten. Aus freien Stücken. Und mit gutem Grund.“ Das ist erst einmal eine Ansage und zu Beginn des Romans sowohl für die Leser*innen als auch die Hauptfigur der Geschichte unvorstellbar, denn Norah mag zwar nicht unbedingt die größte Sympathieträgerin sein (dazu später mehr) – einen Mord traut man der jungen Frau aber trotzdem nicht zu.

Eine selbsterfüllende Prophezeiung?

Als die gerade erst vor ihren Problemen von Berlin nach Wien geflüchtete Journalistin diesen schicksalhaften Satz aus dem Mund einer charismatischen und zugleich irgendwie verstörend wirkenden Bettlerin hört, könnte die Geschichte eigentlich schnell zu Ende sein – wenn Norah das Gebrabbel der alten Frau als dummes Geschwätz abtun würde, schließlich kennt sie überhaupt keinen Arthur Grimm und kann sich erst recht keinen Grund vorstellen, der sie zu einem Mord aus freien Stücken an dem ihr völlig unbekannten Mann bewegen könnte. Beunruhigend ist eine solch düstere Prophezeiung aber natürlich irgendwie dennoch und plötzlich häufen sich in Norahs Umfälle seltsame Vorfälle, die ihr immer mehr Grund zur Sorge geben – Sorge um ihre Sicherheit, aber auch um den eigenen Verstand.

Wenig Wärme im winterlichen Wien

Melanie Raabe geht in ihrem dritten Thriller nach „Die Falle“ und „Die Wahrheit“ wieder überaus clever vor, denn alleine das skurrile Ausgangsszenario motiviert bereits zum Weiterlesen, schließlich erwartet man als Leser*in, dass hinter dem Orakel der Bettlerin irgendein perfider Plan steckt und möchte natürlich wissen, was es damit auf sich hat und was Norah dazu treiben könnte, zur Mörderin zu werden – wohlgemerkt aus eigenem Anreiz und offenbar nicht als Folge einer Erpressung oder um vielleicht gar jemand anderen zu retten. Da kann es sich die Autorin sogar erlauben, ihre Geschichte eher ruhig aufzuziehen und ihr Publikum von langer Hand auf die Folter zu spannen. Denn wirklich viel passiert eigentlich nicht im winterlichen Wien und man schlägt sich überwiegend mit den Problemen der Protagonistin herum. So sollte die Hauptstadt Österreichs für Norah zwar sowohl ein beruflicher als auch privater Neustart sein, einerseits hängt sie aber immer noch ihrer gescheiterten Beziehung und einigen einschneidenden Erlebnissen nach, andererseits zeigen sich die Stadt und ihre Bewohner auch von einer eher kühlen Seite, sodass Norah ein wenig vereinsamt und dadurch nur noch mehr Zeit hat, sich mit ihren Sorgen zu beschäftigen – oder diese durch übermäßigen Alkoholkonsum oder bedeutungslose Sex-Abenteuer zu verdrängen. Wirklich einfach macht es die junge Journalistin ihren Mitmenschen und der Leserschaft aber auch nicht unbedingt, denn während ihr fordernder Charakter ihr beruflich viele Türen öffnet und sie zu einer guten Interviewerin und Reporterin macht, eckt sie mit ihrem oft wenig kompromissbereiten Verhalten immer wieder an und sorgt dafür, dass Menschen zu ihr auf Distanz gehen.

Die alles entscheidende Frage nach dem „Warum?“

Für die Handlung ist es aber auch nicht so wichtig, ob man nun mit Norah mitfiebert oder nicht, da die Frage nach dem möglichen Eintreffen der Mord-Prophezeiung die Geschichte praktisch im Alleingang trägt – unterstützt durch die düstere Ausstrahlung einer Stadt, die man eigentlich eher als Touristentraum kennt, die hier aber trotz unverkennbarer Highlights eher wenig einladend präsentiert wird, was für zusätzliche Beklemmung sorgt. „Der Schatten“ ist eines dieser Bücher, die nahezu alleine von ihrem Rätsel leben und bei denen alles mit der Qualität der Auflösung steht und fällt.

Ein Pageturner mit bitterem Nachgeschmack

Und hier liegt auch der große Knackpunkt dieses Psychothrillers: Man weiß praktisch von Beginn an, worauf diese Geschichte hinausläuft und wartet nur noch auf eine Enthüllung des „Warums“ – und die Auflösung, die Melanie Raabe ihren Leser*innen am Ende präsentiert, bietet durchaus Konfliktpotenzial. Auf der einen Seite ist die Handlung schon raffiniert konstruiert und letztlich auch durchaus schlüssig, auf der anderen Seite sagt es aber auch einiges aus, wenn die Autorin fast 30 Seiten benötigt, um ihren Plottwist rückblickend zu erklären – und selbst hier bleiben offene Fragen zurück, für die auch Melanie Raabe keine überzeugenden Antworten hat. So ist die Auflösung im ersten Moment zwar schon verblüffend und spannend, es entwickelt sich jedoch kurz darauf ein fader Beigeschmack, der auch nicht so schnell wieder verfliegen will. Dies scheint sich ein wenig durch die bisherigen Romane von Melanie Raabe zu ziehen, denn wie schon „Die Falle“ und „Die Wahrheit“ ist auch „Der Schatten“ ohne jede Frage wieder ein Pageturner, zeigt jedoch ebenso wie seine beiden Vorgänger Schwächen im Abschluss.

Der Schatten - Melanie Raabe
  • Autor:
  • Umfang: 416 Seiten
  • Verlag: btb
  • Erscheinungsdatum: 23. Juli 2018
  • Preis Broschiert 16,00 €/eBook 9,99 €
Cover:
Charaktere:
Story:
Atmosphäre:
Gesamt:
7/10
Fazit:
Melanie Raabes dritter Thriller kommt mit einer spannenden Ausgangsidee daher, welche den eher ruhig erzählten Roman fast im Alleingang trägt. Gebannt fiebert man der Auflösung der Geschichte entgegen – die dann jedoch sehr überkonstruiert und etwas unbefriedigend ausfällt.

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