Es gibt sicherlich schönere Geburtstagsüberraschungen, als am eigenen Ehrentag die Nachricht zu bekommen, dass man unter einer bipolaren Störung leide. Für Daniel Mallory ist diese Diagnose aber fast eine Art Befreiung, denn zu diesem Zeitpunkt kämpfte der Journalist bereits seit rund 15 Jahren gegen schwere Depressionen, die trotz einer Vielzahl an ausprobierten Behandlungsmethoden massiv das Leben des jungen Mannes prägten. Durch die Korrektur der Diagnose und damit verbundene neue Medikamentierung verbesserte sich der Zustand Mallorys innerhalb von wenigen Monaten jedoch enorm, sodass dieser losgelöst ein kreatives Projekt angehen wollte.

Aus der Depression zum Bestsellerautor

Unter dem Pseudonym A.J. Finn verarbeitete er dabei seine eigenen Erfahrungen mit den Depressionen in einem Roman, denn oft versteckte sich Mallory wochenlang in seinem Haus und mied völlig den Kontakt mit anderen Menschen. Während dieser Rückzugsphasen beobachtete er ausgiebig sein Umfeld und kannte nach einer Weile selbst intimste Details aus dem Leben seiner Nachbarn – damit war die Idee zu einem Thriller geboren. Keine drei Jahre später stürmte „The Woman in the Window“ noch vor Veröffentlichung weltweit die Bestsellerlisten, wurde in rund 40 Sprachen übersetzt und wird im Herbst 2019 sogar mit Hollywoodstars wie Amy Adams, Julianne Moore oder Gary Oldman als Buchverfilmung in die Kinos kommen.

Das Fenster zum Hof 2.0

A.J. Finns Debütroman weckt sicherlich nicht nur aufgrund des Titels Assoziationen zu Alfred Hitchcocks weltberühmten Thriller-Klassiker „Das Fenster zum Hof“, auch inhaltlich sind die Parallelen unübersehbar – und vermutlich sogar bewusst gewollt. Anna Fox, die Protagonistin in „The Woman in the Window“ ist dabei zwar nicht durch einen Beinbruch in den eigenen Wänden gefangen wie der im Film von James Stewart verkörperte Fotoreporter L.B. Jeffries, sondern leidet an an einer schweren Form von Agoraphobie – der im Volksmund als „Platzangst“ bezeichneten Angst vor weiten Plätzen oder größeren Menschenansammlungen. War Anna vor dieser Angststörung noch eine erfolgreiche Kinderpsychologin, so prägen seitdem die immer gleichen und überwiegend eintönigen Abläufe ihren Alltag: Schachpartien im Internet, der Austausch mit Leidensgenossinnen und -genossen in Chatforen, alte Hollywood-Klassiker, zu viele Gläser Wein und das Ausspionieren ihrer Nachbarn. Letzteres beschert Anna eines Tages ein äußerst verstörendes Erlebnis, als sie plötzlich Zeugin wird, wie in der Wohnung der erst kurz zuvor eingezogenen Russells plötzlich der Ehemann seine Frau Jane ermordet. Daraufhin wählt sie den Notruf und versucht selbst trotz ihrer Phobie, der Frau zur Hilfe zu kommen, wobei sie bei einer schweren Panikattacke schließlich das Bewusstsein verliert. Als sie nach einer Weile wieder aufwacht, kann die Polizei keine Hinweise auf ein Verbrechen finden und Mr. Russell präsentiert sogar seine äußerst lebendige Ehefrau – die für Anna jedoch keinerlei Ähnlichkeit mit der scheinbar getöteten Mrs. Russell hat…

Gefangen in den eigenen vier Wänden und im eigenen Kopf

Wer sich schon einmal in irgendeiner Form näher mit Hitchcocks „Das Fenster zum Hof“ auseinandergesetzt hat, für den dürfte dieses Ausgangssituation trotz kleinerer Unterschiede zunächst wenig originell klingen. Allerdings ist „The Woman in the Window“ weit mehr als ein billiger Abklatsch, sondern viel eher eine Hommage an das Meisterwerk des berühmten Regisseurs – das lässt sich schon daran ablesen, dass Anna Fox selbst großer Fan derartiger Schwarz/Weiß-Klassiker ist und viele davon in diesem Buch Erwähnung finden. Was A.J. Finns Thriller aber vor allem lesenswert macht, ist der äußerst detailliert und realistisch ausgearbeitete Charakter der Hauptfigur. Dem Autor gelingt es hier – vermutlich begünstigt durch die eigenen Erfahrungen – auf sehr eindrucksvolle Art und Weise, die schwere Angststörung der Protagonistin glaubwürdig zu vermitteln und die Agoraphobie zugleich sinnvoll in die Handlung einzubauen. Für Außenstehende dürfte es nämlich vermutlich zunächst schwer sein, diese Angst vor weiten Räumen und Menschengruppen nachzuvollziehen, doch wenn Finn schildert, wie Anna Fox beim Verlassen ihrer sicheren vier Wände nahezu im wahrsten Sinne des Wortes der Himmel auf den Kopf fällt, dann kann man sich sehr gut vorstellen, welch dramatische Auswirkungen eine solche Störung auf das eigene Leben haben kann. Durch ihren labilen Zustand zum einen und den übermäßigen Alkoholkonsum zum anderen wird die Protagonistin zugleich auch zu einer äußerst unzuverlässigen Erzählerin, sodass sich die Zweifel an Annas Wahrnehmungen wie ein roter Faden durchs Buch ziehen und diese Ungewissheit bezüglich der tatsächlichen Realität viel zur Spannung der Geschichte beiträgt.

Packendes Kammerspiel, starkes Debüt

„The Woman in the Window“ ist sicherlich nicht unbedingt der spektakulärste Thriller, was alleine schon durch das sehr einfach gehaltenen Setting bedingt ist, da sich ein Großteil der Handlung in Annas Wohnung bzw. ihrem Kopf abspielt. Trotzdem ist es bemerkenswert, wie viel A.J. Finn aus diesen begrenzten Mitteln herausholt. Durch kurze Kapitel und immer wieder neue Wendungen erzeugt das Buch einen stetig höher werdenden Suchtfaktor und wird gerade in der zweiten Hälfte zum wahren Pageturner. Dabei nimmt sich der Autor sicherlich die ein oder andere künstlerische Freiheit, trotzdem bleibt die Geschichte durch die gut dargestellten Charaktere weitestgehend glaubwürdig. Auch der Schlusstwist ist gelungen, wenngleich man als routinierter Thriller-Leser von der Auflösung vielleicht nicht völlig überrascht wird – packend ist das Finale dennoch. Somit hat A.J. Finn mit „The Woman in the Window“ insgesamt einen hervorragenden Debütroman hingelegt, der dem weltweiten Hype absolut gerecht wird und die hohen Erwartungen voll erfüllen kann – vorausgesetzt man mag Kammerspiel-artige und eher dialoglastige Psychothriller.

The Woman in the Window – Was hat sie wirklich gesehen?
  • Autor:
  • Original Titel: The Woman in the Window
  • Umfang: 543 Seiten
  • Verlag: Blanvalet
  • Erscheinungsdatum: 19. März 2018
  • Preis Broschiert 15,00 €/eBook 11,99 €
Cover:
Charaktere:
Story:
Atmosphäre:
Gesamt:
9/10
Fazit:
"The Woman in the Window" überzeugt als raffinierter Psychothriller mit zwar sehr einfachem Setting, aber clever erzählter Geschichte, die besonders von der vielschichtig angelegten und sehr glaubwürdig dargestellten Protagonistin profitiert – ein starkes Debüt und zugleich eine gelungene Hommage an Alfred Hitchcocks "Das Fenster zum Hof".

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Eine Anwort zu diesem Beitrag

  • Ich habe das Buch als Hörbuch gehört.
    Übrigens eine gute Umsetzung.
    Das Lob kann ich absolut verstehen, allerdings hatte ich einen kleinen Hänger drin. Ich hatte das Gefühl, als sie endlich weiß wer es ist, dass eine Weile nichts passiert und es sich (zu sehr) im Kreis dreht.
    Ob das jetzt als Hörbuch lag, wo Bücher stets anders wirken, oder mich im Buch genauso gestört hat, kann ich nicht sagen.
    Letztendlich war auch ich recht angetan von der Story und dem glaubwürdigen Verhalten 🙂