Während die meisten Krimireihen so angelegt sind, dass man ohne Schwierigkeiten mitten in die Serie einsteigen oder sich auch nur einzelne Bände herauspicken kann, so war Thomas Engers Geschichte um den norwegischen Journalisten Henning Juul von Anfang an anders konzipiert: Hier bietet jeder der einzelnen Romane zwar einen eigenständigen Fall, wie bei kaum einer anderen Reihe dieses Genres zieht sich jedoch ein besonders dominanter roter Faden durch die Bücher. Wie viele seiner nordischen Ermittlerkollegen trägt nämlich auch Engers Protagonist eine tragisches persönliches Schicksal mit sich herum, welches hier aber nicht wie so oft üblich dazu dient, den schwermütigen Charakter oder etwa eine Alkoholabhängigkeit oder ähnliche Schwäche der Hauptfigur zu erklären, sondern sich im Verlauf der drei Vorgänger „Sterblich“, „Vergiftet“ und „Verleumdet“ zu einem verzwickten und sehr emotionalen Kriminalfall entwickelt hat. Das Trauma Henning Juuls ist der Tod seines sechsjährigen Sohnes, der bei einem Wohnungsbrand ums Leben kam – eine Tragödie, deren Ursache auch Jahre später noch nicht aufgeklärt werden konnte und deren rätselhafte Umstände den Journalisten immer noch antreiben, seinem verstorbenen Kind Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Juul ist nämlich davon überzeugt, dass das tödliche Feuer kein Unfall war, sondern bewusst gelegt wurde, um sich an ihm persönlich zu rächen – ein Verdacht, der gerade für einen Vater natürlich nur schwer zu ertragen ist…

Die lange Suche nach der Wahrheit

In „Gejagt“, dem vierten Band der Reihe, ist Henning Juul der Aufklärung des Brandes inzwischen deutlich nähergekommen und steht kurz vor einem möglicherweise entscheidenden Durchbruch. Aufgrund dieser ausführlichen Vorgeschichte ist es natürlich äußerst empfehlenswert, die ersten drei Bücher zuvor gelesen zu haben, da sich Juuls Ermittlung in diesem Buch fast ausschließlich um das eigene Familiendrama dreht. Allerdings bekommt Henning diesmal auch Verstärkung von seiner Ex-Frau Nora Klemetsen, die nicht nur dem gleichen Beruf wie ihr Ex-Mann nachgeht, sondern ebenfalls aus vorrangig persönlichen Motiven einem Fall nachgeht: Nora erfährt nämlich, dass eine frühere Studienfreundin von ihr spurlos verschwunden ist. Laut ihrem Ehemann sei Hedda Hellberg nach dem Tod ihres Vaters für ein paar Tage verreist, um diesen schweren Verlust zu verarbeiten. Seit ihrer Abreise fehlt von der Frau jedoch jede Spur, und ein freiwilliges Verschwinden schließt ihr Mann kategorisch aus.

Henning Juul im Schatten seiner Ex-Ehefrau

Aus den beiden Ermittlungen ergibt sich eine durchaus überraschende Rollenverteidigung, denn Henning Juul wird in „Gejagt“ von seiner ehemaligen Frau fast ein wenig ins zweite Glied gedrängt, was dem Roman und auch der Reihe im Ganzen jedoch durchaus gut tut. Zum einen stellt sich Nora spätestens in diesem Band als sehr interessante und sympathische Persönlichkeit heraus, zum anderen gehört ihr ehrlich gesagt auch der spannendere Handlungsstrang – zwar ermittelt Juul natürlich nach wie vor in Bezug auf eine möglicherweise großangelegte Verschwörung rund um die Wohnungsbrand-Katastrophe, wirklich große Fortschritte macht er bei seinen zum Teil wieder recht leichtsinnigen Eskapaden in das Osloer Gangster-Milieu dabei aber lange Zeit nicht. Nun ist Noras Recherche im angesprochenen Vermisstenfall zwar auch nicht unbedingt der Höhepunkt der Reihe, bewegt sich aber auf einem durchweg ordentlichen Spannungsniveau.

Eine schwierige, aber spannende Dreiecksbeziehung

Die große Stärke dieses vierten Bandes liegt diesmal eindeutig in der Charakterentwicklung, gerade was die Dreiecksbeziehung zwischen Henning Juul, seiner Ex-Frau Nora und deren neuen Lebensgefährten Iver betrifft – zumal die drei allesamt auch noch Journalisten-Kollegen sind. Diese Konstellation bringt enormes Konflikt- und damit fast zwangsläufig auch Nerv-Potenzial mit sich, doch statt sich in anstrengenden Streitereien und Hahnenkämpfen zu verlieren, manövriert sich Thomas Enger erstaunlich sicher durch das Beziehungsgeflecht und schafft es dabei sogar noch, alle Beteiligten als sympathische, reife Figuren mit nachvollziehbaren Motiven darzustellen – so macht es der Autor seinen Lesern einfach, sich auf die Seite der Protagonisten zu schlagen und mit ihnen mitzufiebern.

Nicht der beste Juul-Krimi, aber mit starker Charakterzeichnung

Insgesamt ist „Gejagt“ vielleicht nicht der spannendste Band der Henning-Juul-Reihe, erzählt jedoch zwei interessante und geschickt miteinander verknüpfte Geschichten und leistet vor allem einen großen Beitrag zur Formung der Charaktere. Ein klein wenig nervig ist allerdings, dass Thomas Enger wieder einmal auf den gleichen Cliffhanger setzt, um seine Leserschaft neugierig auf den nächsten und dann letzten Band zu machen – hier beschleicht einen schon das Gefühl, dass das große Geheimnis künstlich in die Länge gezogen wird. Allerdings muss man auch konstatieren, dass die bekannte Masche auch diesmal funktioniert und somit auch „Gejagt“ wieder mit einem Paukenschlag endet, welcher den nachfolgenden Abschlussband ebenfalls zur Pflichtlektüre macht – und weil eben auch dieser vierte Band das hohe Niveau der drei Vorgänger hält, dürfen Juul-Fans sich auf ein hoffentlich spektakuläres und zufriedenstellendes Finale in „Tödlich“ freuen.

Gejagt (Henning Juul #4)
  • Autor:
  • Original Titel: Våbenskjold
  • Reihe: Henning Juul #4
  • Umfang: 416 Seiten
  • Verlag: Blanvalet
  • Erscheinungsdatum: 21. September 2015
  • Preis Broschiert 14,99 €/eBook 8,99 €
Cover:
Charaktere:
Story:
Atmosphäre:
Gesamt:
8/10
Fazit:
Im vierten Band seiner Henning-Juul-Reihe überrascht Thomas Enger damit, dessen Ex-Frau Nora zur eigentlichen Hauptfigur der Geschichte zu machen, dies erweist sich jedoch als gelungener Schachzug und sorgt dafür, dass "Gejagt" nicht nur zwei spannende Fälle bietet, sondern auch die Entwicklung der Protagonisten der Reihe gelungen voranbringt – und damit gekonnt das Finale seiner fünfteiligen Krimi-Serie einläutet.

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