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Über die Gestaltung von Buchcovern lässt sich ja bekanntlich ausgiebig und leidenschaftlich diskutieren, im Allgemeinen sollte zumindest aberI ein gewisser Bezug zwischen Optik und Inhalt erkennbar sein. Bei „Memory Man“, dem Auftaktband der neuen Thrillerreihe von US-Bestsellerautor David Baldacci, wird aber schon nach wenigen Seiten (bzw. Minuten) deutlich, dass sich die Grafikabteilung des Heyne Verlages offenbar nicht mal ansatzweise mit dem Roman auseinandergesetzt hat. Der gut aussehende Agent im Anzug mag nämlich vielleicht zu Baldaccis John-Puller-Serie passen, sein neuer Protagonist Amos Decker war aber selbst in seinen besten Zeiten meilenweit von einem solchen Äußeren entfernt – und diese liegen bereits eine ganze Weile zurück. Schon in seinen jungen Jahren als professioneller Footballspieler war Amos bereits ein Mann wie ein Schrank und selbst als ein verheerender Unfall im ersten Spiel die NFL-Karriere jäh beendete und der Sportinvalide zum Polizisten umschulte, konnte sich Decker mit seiner imposanten Statur stets Eindruck verschaffen – bis eine schreckliche Tragödie von einer Sekunde zur nächsten sein Leben zerstörte. Mit der Ermordung seiner Familie verlor Amos Decker nämlich komplett den Boden unter den Füßen und durchlebte einen beispiellosen Absturz bis runter zu einem erbärmlichen Leben im Pappkarton, das aus dem durchtrainierten Ex-Sportler einen ungepflegten Fettsack machte – und damit das absolute Gegenteil des Mannes auf dem „Memory Man“-Buchcover.

Ex-Footballer, Ex-Polizist, Ex-Obdachloser und mit perfektem Gedächtnis

Der Buchtitel ist dagegen schon deutlich treffender, denn der schicksalhafte Zusammenprall mit einem Gegenspieler auf dem Footballfeld beendete nicht nur Amos Deckers NFL-Karriere, sondern hinterließ auch in seinem Gehirn folgenschwere Spuren: Seit dem Unfall verfügt Decker nämlich über ein perfektes Gedächtnis, was ihn in seiner anschließenden Polizei-Karriere zu einem begnadeten Ermittler gemacht hat – nun sorgt es jedoch vorrangig dafür, dass Amos immer wieder die Bilder von den Leichen seiner Frau und seiner Tochter durch den Kopf gehen, und das bis ins kleinste blutige Detail. Darüber hinaus ist Amos Decker auch noch Synästhetiker und nimmt viele äußere Einflüsse in Form von Farben wahr – über eine uninteressante Hauptfigur ohne Profil kann man sich bei David Baldacci also wahrlich nicht beschweren, denn sein neuer Protagonist bietet Ecken, Kanten und Macken im Überfluss.

Eine Reise in die eigene Vergangenheit

Auch die Geschichte selbst kommt ohne großes Vorgeplänkel direkt in Fahrt: zunächst erlebt der Hörer im Schnelldurchlauf Deckers Absturz vom Polizisten zum Obdachlosen und seine anschließende „Auferstehung“ als privater Ermittler, bevor dann der eigentliche Fall beginnt. Dieser steht dann auch in unmittelbarem Bezug zur Hauptfigur, denn rund anderthalb Jahre nach der Auslöschung seiner Familie meldet sich plötzlich der vermeintliche Mörder und gesteht die Tat, doch die Aussage des Tatverdächtigen wirft für Decker mehr Fragen auf als dass sie welche beantwortet. Und als wäre dies noch nicht Aufregung genug, wird Decker auch noch von seinen alten Polizei-Kollegen im erschütternden Fall eines Schul-Massakers hinzugezogen, bei dem er mit seinen besonderen Fähigkeiten die Suche nach dem flüchtigen Täter unterstützen soll.

Packende Ermittlungsarbeit statt einfallsloser Action

Wenn man die vielen Zutaten dieses Thrillers in so komprimierter Form auf sich einprasseln sieht, könnte schnell der Eindruck entstehen, dass man es hier mit einem absoluten Overkill zu tun bekommt und David Baldacci es in erster Linie auf möglichst viel Spektakel angelegt hat und die Glaubwürdigkeit dabei schon früh auf der Strecke bleibt. Und natürlich kann man darüber diskutieren, ob ein abgehalfterter und komplett abgestürzter Ex-Cop wie Amos Decker tatsächlich von der Polizei in einem so bedeutendem Fall wie einem Schul-Amoklauf hinzugezogen werden würde – man kann sich aber auch stattdessen einfach daran erfreuen, dass „Memory Man“ ab der ersten Minute ein sehr hohes Tempo vorlegt und dabei durchgängig ein beeindruckendes Spannungsniveau aufrechterhält. Dabei kommt der Autor angesichts der vollgepackten Story fast schon etwas überraschend mit wenig tatsächlicher Action aus, sondern erzählt vielmehr eine packende Detektiv-Geschichte, bei der Amos Decker und seine Ermittlungshelfer unter enormem Druck Spuren suchen und richtig zusammensetzen müssen. Der Protagonist mit dem perfekten Gedächtnis wird hierbei keineswegs zur unfehlbaren Ermittlungsmaschine hochstilisiert, stattdessen setzt Baldacci dessen außergewöhnliche Fähigkeiten sehr dosiert ein und zeigt auch die Schattenseiten von Deckers Gabe.

Starker Reihenauftakt mit einem außergewöhnlichen Ermittler

So entwickelt sich ein dramatisches und extrem packendes Katz-und-Maus-Spiel, bei dem der Autor die vielen Zutaten seiner Geschichte erstaunlich schlüssig zu einer zwar etwas überkonstruierten, aber keineswegs absurden Story kombiniert. Die letztlich enthüllte Motivation hinter den Taten ist zwar nicht 100%-ig überzeugend, jedoch mit einer guten Portion Tragik verbunden, wodurch sich Baldacci angenehm von der in diesem Genre häufig vorherrschenden Schwarz/Weiß-Malerei abhebt und hier auch dem Bösen viel Persönlichkeit verleiht. Insgesamt ergibt sich somit ein enorm spannender und fesselnder Thriller mit absoluten Pageturner-Qualitäten, der in der Hörbuch-Fassung durch die wieder einmal exzellente Lesung von Dietmar Wunder noch einmal an Intensität gewinnt – Wunder weiß nämlich nicht nur das Tempo der Geschichte gekonnt zu steuern, sondern verleiht auch dem desillusionierten und etwas emotional verkümmertem, aber angesichts der vielen Ungerechtigkeiten in seinem Leben spürbar wütenden Amos Decker eine glaubwürdige Stimme. Bitte also nicht vom Buchcover täuschen lassen: „Memory Man“ ist viel mehr als nur ein tumber Action-Reißer und für Thrillerfans eine ausdrückliche Lese- bzw. Hör-Empfehlung wert!

Hörbuch erhältlich bei audible.de

Memory Man (Amos Decker #1)
  • Autor:
  • Sprecher: Dietmar Wunder
  • Original Titel: Memory Man
  • Reihe: Amos Decker #1
  • Länge: 13 Std. 29 Min. (ungekürzt)
  • Verlag: Random House Audio, Deutschland
  • Erscheinungsdatum: 28. Oktober 2016
  • Preis 25,95 € (9,95 € im Audible-Flexi-Abo)
Charaktere:
Story:
Atmosphäre:
Sprecher:
Gesamt:
9/10
Fazit:
David Baldacci beweist wieder einmal seine Qualitäten als ausgezeichneter Thriller-Autor und legt mit "Memory Man" einen enorm spannenden Pageturner hin, der nicht nur mit einem fesselnden Katz-und-Maus-Spiel besticht, sondern mit dem unkonventionellen Ermittler Amos Decker zudem eine interessante Serienfigur einführt – zusammen mit der packenden Lesung von Dietmar Wunder ein fast perfektes Thriller-Paket!

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5 Antworten zu diesem Beitrag

  • „Wenn man die vielen Zutaten dieses Thrillers in so komprimierter Form auf sich einprasseln sieht, könnte schnell der Eindruck entstehen, dass man es hier mit einem absoluten Overkill zu tun bekommt und David Baldacci es in erster Linie auf möglichst viel Spektakel angelegt hat und die Glaubwürdigkeit dabei schon früh auf der Strecke bleibt.“ – gerade das wollte ich fragen, als ich den vorangegangenen Abschnitt las. xD

    Erwartest du im zweiten Band eine Liebesgeschichte zwischen Amos und ?? (Ich hoffe nicht.)

    Welches anderes Buch von Baldacci würdest du als Nächstes empfehlen?

    • Oh Gott, hoffentlich gibt es keine Romanze im nächsten Band, ich fand aber auch nicht dass sich unbedingt eine angedeutet hätte…

      Ich fand bisher eigentlich alle Baldacci-Bücher gut, die ich gelesen habe, aber du könntest z.B. gut mit der John-Puller-Reihe starten 😉

  • Verdammt!
    Jetzt bin ich angefixt!
    Das Cover schreckt mich nämlich einfach nur ab, aber deine Beschreibung klingt einfach zu guuuut :3
    Zumal es ein Auftakt ist und das „Invalide“ mich ja ein wenig an Deaver erinnert.
    *auf merkzettel schreib*

    • Das Cover hat wirklich mit dem Inhalt des Buches absolut gar nichts zu tun 😀

      Von mir gibt’s auf jeden Fall eine ganz klare Leseempfehlung 😉