Farbenblind_Rezi

In einem Freizeitpark in Orlando geschieht das Unfassbare: ein Wahnsinniger feuert plötzlich aus der Deckung willkürlich auf die Besucher und erschießt wahllos und ohne mit der Wimper zu zucken innerhalb von Sekunden mehrere Menschen – mehr als 20 unschuldige Opfer finden zwischen Fahrgeschäften und Imbissbuden ihren schrecklichen Tod. Der Täter feuert mit seinem Gewehr so lange seelenruhig in die Menge, bis sich schließlich die Polizei nähert und der Amokschütze sich widerstandslos verhaften und abführen lässt. In Gewahrsam des FBI verweigert Isaac Keaton jedoch jegliche Aussage und beharrt darauf, nur mit einer ganz bestimmten Person reden zu wollen: Dr. Jenna Ramey, forensische Psychiaterin und nach langen Jahren beim FBI nun selbstständige Beraterin der Einheit für Verhaltensanalyse. Warum der Massenmörder ausgerechnet mit ihr sprechen will ist ihr zunächst schleierhaft, allerdings scheint ihr keine andere Wahl zu bleiben, als sich auf dessen Spiel einzulassen: Keaton hat bei dem Massaker nämlich offenbar nicht alleine gehandelt, ein zweiter Todesschütze konnte jedoch unbehelligt aus dem Park entkommen – und die einzige Spur zu diesem Killer führt über Isaac Keaton…

Dr. Jenna Ramey: forensische Psychiaterin, Serienkiller-Tochter, Mutter und Synästhetikerin

Man muss sich heutzutage als Thrillerautor schon etwas einfallen lassen, um in der Masse an Spannungsliteratur nicht unterzugehen, und die Amerikanerin Colby Marshall scheint bei ihrem neuen Roman „Farbenblind“ zumindest mit ihrer Protagonistin schon mal auf einem guten Weg dazu zu sein, denn Dr. Jenna Ramey bringt beste Voraussetzungen für eine interessante Serienfigur mit: sie kann als forensische Psychiaterin nicht nur auf eine langjährige Berufserfahrung beim FBI und anschließend als selbstständige Beraterin vorweisen, hat ein gemeinsames Kind mit ihrem Kollegen und Ex-Partner und eine Mutter, die als Serienkillerin unter anderem schon versucht hat, Jennas Vater und Bruder umzubringen. Das alleine wäre schon aufregend, allerdings weist die selbstbewusste und unerschrockene Frau noch eine weitere Besonderheit auf, die ihr in ihrem Berufsalltag durchaus zugute kommt: Jenna ist Graphem-Farb-Synästhetikerin, d.h. sie assoziiert alles in ihrer Wahrnehmung mit Farben, egal ob Buchstaben, Zahlen, Tage oder Menschen. Aufgrund dieser neurologischen Auffälligkeit kann sie oft schon bei der ersten Begegnung mit einem Menschen dessen Wesen erfassen und ist auch in der Lage, unterdrückte Emotionen zu erkennen – als Profilerin sicherlich eine wertvolle Fähigkeit. Diese Besonderheit teilt Jenna übrigens mit ihrer Schöpferin Colby Marshall, die selbst Synästhetikerin ist – man darf also davon ausgehen, dass die Autorin weiß worüber sie schreibt und dass dieses Phänomen authentisch dargestellt wird.

Eine neurologische Besonderheit als interessante, aber nicht immer nachvollziehbare Ermittlungshilfe

Ich war auf „Farbenblind“ in erster Linie wegen genau dieser Eigenheit der Hauptfigur gespannt, muss rückblickend allerdings konstatieren dass genau dieser Teil des Buches für mich zu den wenigen Schwachstellen dieses Thrillers zählt. Das liegt für mich vor allem daran, dass die Synästhesie für Außenstehende nur schwer nachzuvollziehen ist, weil die Farbassoziationen relativ willkürlich erscheinen und man nicht anders kann, als Hauptfigur und Autorin in dieser Hinsicht blind zu folgen. Wenn Dr. Jenna Ramey also einem Verdächtigen gegenübertritt und sie diesen z.B. als Orange – für Jenna ein Indikator für Unaufrichtigkeit – wahrnimmt, muss man einfach auf die Intuition der Psychiaterin vertrauen und die Person der Lüge verdächtigen – greifbare Hinweise für Nicht-Synästhetiker gibt es dafür in den meisten Fällen jedoch keine. Ich habe für mich im Verlauf des Buches aber auch festgestellt, dass Jenna Ramey diese Besonderheit gar nicht braucht, da sie auch ohne ihre Farbwahrnehmung eine interessante Persönlichkeit ist. Vor allem ihr familiärer Hintergrund als Tochter einer Serienmörderin ist spannend und es ist fast ein wenig schade, dass sich der Großteil dieses persönlichen Dramas bereits in ihrer Vergangenheit abgespielt hat – immerhin liefert Colby Marshall diese einschneidende Episode aus dem Leben ihrer Protagonistin in der Kurzgeschichte „Plain Sight“ nach, die allerdings bisher noch nicht auf Deutsch erschienen ist. Dr. Jenna Ramey ist jedoch auch in der Gegenwart eine facettenreiche und zudem sympathische Figur, welche die Geschichte oft fast im Alleingang trägt, allerdings bietet der Roman aber auch den ein oder anderen sehr gelungenen Nebencharakter.

Ein echter Pageturner mit einer starken Ermittlerfigur

„Farbenblind“ punktet aber nicht nur mit einer interessanten Ermittlerfigur, sondern hat auch eine packende Story zu bieten, die gleich auf mehreren Handlungsebenen für Nervenkitzel sorgt. Zum einen fasziniert das Psychoduell zwischen Amokschütze Nr. 1 und der Psychiaterin, dann gibt es noch die Jagd auf Schütze Nr. 2, der nach dem Freizeitpark-Massaker noch auf freiem Fuß ist und dann – denn aller guten Dinge sind drei – treibt auch noch ein verzweifelter Vater auf einem persönlichen Rachefeldzug das Spannungsniveau in die Höhe. Manchmal wirkt das vielleicht ein wenig zu viel des Guten, allerdings bleibt die Handlung dabei trotz der vielen Szenenwechsel jederzeit übersichtlich und nachvollziehbar, zudem lassen die kurzen und knackigen Kapitel diesen Thriller zu einem echten Pageturner werden. Colby Marshall macht mit ihrem ersten Jenna-Ramey-Band also vieles richtig und eigentlich nichts wirklich falsch, lediglich die Darstellung der Farbsynästhesie der Protagonistin konnte mich wie oben angesprochen nicht so ganz überzeugen – da die Autorin diese Besonderheit aber dosiert anspricht und nie in den Vordergrund drängt, kann man über diese Schwäche wohlwollend hinwegsehen.

Farbenblind (Dr. Jenna Ramey #1)
  • Autor:
  • Original Titel: Color Blind
  • Reihe: Dr. Jenna Ramey #1
  • Umfang: 432 Seiten
  • Verlag: Heyne
  • Erscheinungsdatum: 9. November 2015
  • Preis Taschenbuch 9,99 €/eBook 8,99 €
Cover:
Charaktere:
Story:
Atmosphäre:
Gesamt:
8/10
Fazit:
Colby Marshall bietet mit ihrem Thriller „Farbenblind“ 432 Seiten Hochspannung und überzeugt mit einer packenden und temporeichen Story und einer vielschichtigen und sympathischen Ermittlerin – auch wenn sich mit Jenna Rameys nicht immer nachvollziehbar dargestellter Farbsynästhesie ausgerechnet das vermeintliche Alleinstellungsmerkmal der Protagonistin als kleiner Schwachpunkt entpuppt.

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2 Antworten zu diesem Beitrag

  • Dieses Buch klingt interessant, auch wenn es Schade ist, dass die Darstellung der Farbsynästhesie eher eine Schwäche war. Ich würde gern wissen, was Kelley darüber sagen würde. (Das Buch steht sogar auf ihrer Wunschliste.) Ich verstehe aber nicht, warum es “Farbenblind” heißt, denn die Protagonistin kann doch Farben sehen.

    • Oh, ich wusste gar nicht dass Kelley das auch hat? Vielleicht werde ich sie dann beim nächsten Band mal befragen wie sich das für sie auswirkt damit es vielleicht ein wenig nachvollziehbarer für mich ist^^

      Ich würde es ja normalerweise auf die oft schwachsinnigen deutschen Buchtitel-Übersetzungen schieben aber im Original heißt das Buch ja auch „Color Blind“ 😀