Tags: Flugzeug, Flugzeugunglück, Journalistin, Luftfahrt, Malaysia, MH370, Netgalley, Ullstein, Verschwörung
Genre: Sachbuch
„Goodnight, Malaysian Three Seven Zero.“ Mit diesen fünf Worten meldete sich Flugkapitän Zaharie Ahmad Shah am 8. März 2014 um 1.19 Uhr bei der malaysischen Luftverkehrskontrolle in Kuala Lumpur ab, kurz bevor er den Luftraum des südostasiatischen Staates verlassen würde – es sollten die letzten Worte sein, die man von einem Menschen an Bord des Malaysia-Airlines-Fluges MH370 jemals hören wurde. Kurz danach riss die Verbindung zum in Kuala Lumpur gestarteten Flugzeug ab, welches niemals an seinem Ziel in Peking ankommen sollte.
Flug MH370: Das größte Rätsel in der Geschichte der Luftfahrt
Statistisch betrachtet zählt das Flugzeug zu den sichersten Verkehrsmitteln der Welt und die Wahrscheinlichkeit, bei einem Flugzeugunglück ums Leben zu kommen, beträgt ungefähr 1 zu 7 Millionen. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen sorgen Abstürze immer wieder für ein gewaltiges Medienecho, dabei ist es viel wahrscheinlicher an einem Insektenstich zu sterben (ca. 1 zu 60.000) oder vom Blitz tödlich getroffen zu werden (ca. 1 zu 470.000). Flugzeug-Katastrophen sind also extrem selten, doch der Fall des Fluges MH370 ist zusätzlich so außergewöhnlich, dass er eigentlich undenkbar ist: seitdem der Kontakt zur Maschine in der schicksalhaften Nacht ziemlich exakt an der Luftraum-Grenze von Malaysia zu Vietnam abbrach, gilt das Flugzeug nämlich als vermisst – ebenso wie die 239 Menschen an Bord der Boeing 777. Auch die nachfolgende langwierigste und teuerste Suchaktion aller Zeiten führte bisher zu keinem Ergebnis und das Verschwinden des Fluges MH370 gilt so als das vielleicht größte Mysterium der Luftfahrtgeschichte – denn bei der heute möglichen detaillierten Flugüberwachung und dem aktuellen Stand der Technik sollte es theoretisch nahezu unmöglich sein, dass ein derart großes Flugzeug einfach so von der Bildfläche verschwindet.
Eine Journalistin auf der Suche nach der Wahrheit
Die französische Journalistin Florence de Changy lebt seit 30 Jahren in Hongkong und gehörte als Korrespondentin der Asien-Pazifik-Region für die Zeitung „Le Monde“ zu den ersten, die im März 2014 über die Tragödie berichteten. Auch in den Jahren danach sprach de Changy immer wieder mit Angehörigen, Experten und Verantwortlichen über das rätselhafte Verschwinden von MH370 und hat ihre Ergebnisse im Buch „Verschwunden – Was geschah wirklich mit Flug MH370?“ gesammelt. Zwar erschien das Werk auf Französisch bereits im Jahr 2016, wurde für den internationalen Markt aber nun noch einmal überarbeitet und ergänzt, sodass das Sachbuch nun auf dem Stand von Anfang 2022 ist.
Was geschah in der Nacht vom 8. März 2014 im Himmel über Malaysia?
Die Autorin beginnt ihre Reportage mit einer minutiösen Schilderung der Ereignisse aus der Nacht vom 7. auf den 8. März 2014, zumindest so weit sich diese anhand von Funksprüchen, Radarüberwachungen und anderen Quellen und Dokumenten rekonstruieren lassen. Dabei geht de Changy gewissenhaft und detailliert vor und lässt kaum ein Detail aus, ebenso bei der Berichterstattung über die anschließenden Aufklärungsversuche in den Tagen nach dem Abbruch des Kontakts zur Boeing 777. Für die Lesenden bedeutet dies eine Vielzahl an Informationen wie die Namen der Beteiligten, Abkürzungen von Organisationen, Geräten oder Wegpunkten und technische Details, die in der Regel jedoch gut erklärt bzw. verknüpft werden, sodass man den Zusammenhängen gut folgen kann. Schon früh macht die Französin dabei auf Ungereimtheiten in der offiziellen Darstellung aufmerksam, wodurch das Buch trotz der sachlichen Auseinandersetzung auch schnell ein gewisses Spannungsniveau aufbaut.
Zwischen Fakten und Verschwörungstheorien
In der zweiten Hälfte von „Verschwunden“ geht Florence de Changy dann auf mögliche Theorien zur Aufklärung des Mysteriums ein. Aufgrund der vielen ungeklärten Fragen bietet das Unglück von MH370 natürlich reichlich Nährboden für Verschwörungstheoretiker auf der ganzen Welt, dennoch bemüht sich die Autorin um eine glaubwürdige Darstellung der denkbaren Geschehnisse und greift nicht blind das Geschwurbel von Menschen in fragwürdigen Internetforen auf, sondern sammelt Argumente für und gegen geäußerte Theorien und widerlegt auch absurdere Erklärungsversuche bestimmt. Das Buch endet letztlich mit ihrer eigenen Vermutung, die sie anhand der über Jahre gesammelten Informationen anstellt, ohne diese jedoch als in Stein gemeißelt zu betrachten.
Verstörend, unfassbar, hochspannend – eine Reportage wie ein Thriller
Insgesamt ist „Verschwunden“ eine beeindruckende Reportage, die trotz des doch beachtlichen Umfangs von knapp 500 Seiten und einer Fülle an Details und Informationen durchweg fesselnd geschrieben ist und alle erdenklichen Aspekte des Mysteriums um den Flug MH370 abzudecken scheint. Der Aufwand hinter diesem Buch scheint gigantisch, wenn man die jahrelange Recherche der Journalistin in allen Ecken der Welt betrachtet und wenn man alle in diesem Werk dargelegten Fakten und Theorien gelesen hat wirkt das Verschwinden dieses Flugzeugs noch einmal unglaublicher als ohnehin schon. Einen Wermutstropfen gibt es allerdings: da die Boeing-Maschine mit der Flugnummer MH370 immer noch als vermisst gibt und bisher keine offizielle Erklärung zu deren Verschwinden präsentiert wurde, kann auch Florence de Changy hier letztlich (noch) keine definitive Antwort auf die Frage „Was geschah wirklich mit dem Flug MH370“ liefern. Dennoch bekommt man hier wohl alles an Informationen geboten, was ohne Sicherheitsfreigaben oder Geheimdienstkenntnisse zugänglich ist und das macht „Verschwunden“ zu einem Standardwerk zum MH370-Rätsel. Ein packendes Buch nicht nur für Nachrichten-Junkies oder Verschwörungsfans, sondern auch für Anhänger von True-Crime-Reportagen – denn de Changys Erzählung hat zweifellos das Potenzial, für schlaflose Nächte zu sorgen.
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9/10