Es sollte ein unbeschwerter Mutter-Sohn-Ausflug werden, doch es endet in einem Albtraum: Joan hat mit ihrem vierjährigen Sohn Lincoln den Nachmittag wie schon so viele Male zuvor im Zoo verbracht und im waldigen Park nur ein wenig die Zeit aus den Augen verloren. Kurz vor der Schließung hasten die beiden Richtung Ausgang, als es um sie herum immer wieder laut knallt. Joan denkt noch an eine technische Störung einer der Maschinen im Zoo, doch als sie dann mehrere auf dem Boden liegende, leblose Körper entdeckt, wird ihr ihre dramatische Situation bewusst: sie und ihr Junge sind mitten in einem brutalen Amoklauf gelandet und es geht plötzlich ums nackte Überleben…
Amoklauf zwischen Affen und Elefanten
Es ist ein schockierendes Szenario, welches die Autorin Gin Phillips in ihrem Thriller „Nachtwild“ entwirft: ein völlig sicher erscheinender Ort, ein Rückzugsort für Familien und Tierliebhaber jeden Alters, wird zur Todesfalle – Schüsse und Leichen statt Kinderlachen und Affengeschrei. Ein heimtückischer Anschlag, der vor allem viele unschuldige Kinder und wehrlose Tiere trifft. So bedrückend und verstörend die Vorstellung davon sein mag – für einen Thriller ist dieser Zoo-Amoklauf ohne Frage ein sehr reizvolles Setting, das gar nicht einmal so viel Ausschmückung bedarf. Zwar versucht Phillips den Schauplatz ihrer Geschichte möglichst anschaulich zu beschreiben (was ihr nicht immer gelingt), aber viele dürften beim Hören dieser Geschichte wohl auch den eigenen Heimatzoo vor Augen haben und die Geschehnisse auf die eigenen Erfahrungen projizieren, was die Angelegenheit vielleicht noch beängstigender macht.
Einfach, aber effektiv
So hat „Nachtwild“ dann auch viele intensive und beklemmende Momente: wenn Joan zum ersten Mal die Leichen der Opfer sieht und ihr Kind vor dem traumatischen Anblick beschützen will, wenn Mutter und Sohn Zuflucht in einem Tiergehege suchen oder wenn Joan verzweifelt versucht, den vierjährigen Lincoln über Stunden hinweg ruhig zu stellen, um bloß keine Aufmerksamkeit zu erregen – Aufmerksamkeit, die für beide den wohl sicheren Tod bedeuten würde. Viele dieser Szenen sind sehr schlicht aufgebaut, wirken aber vielleicht gerade aufgrund dieser Einfachheit sehr nachvollziehbar und vor allem in den Momenten, in denen die Mutter sehr behutsam die Unberechenbarkeit eines vierjährigen Kindes zu steuern versucht, ist die Spannung förmlich greifbar.
Das große Warten
Allerdings ist die Simplizität der Geschichte nicht nur eine Stärke, sondern zugleich auch ein großer Schwachpunkt. Das klingt zunächst absurd, allerdings ist die Handlung in „Nachtwild“ tatsächlich sehr überschaubar und besteht nun einmal zum Großteil darin, dass Mutter und Sohn in ihrem Versteck verharren und auf Rettung hoffen. Das führt zwar wie angesprochen zu einigen packenden und eindringlichen Szenen, im Großen und Ganzen passiert in diesem Buch aber sehr wenig. Dieses Dilemma wird auch dadurch verdeutlicht, dass sich die Ereignisse dieser Geschichte im Rahmen von ungefähr drei Stunden abspielen, das Hörbuch aber eine Laufzeit von rund sieben Stunden hat. Dadurch wirkt die Handlung fast zwangsläufig etwas aufgebläht und wird häufig mit Passagen ausgeschmückt, in denen Joan an frühere Erlebnisse mit ihrem Sohn oder Ehemann zurückdenkt und dabei gedanklich gerne mal abschweift.
Weniger wäre mehr gewesen
Ein weiteres In-die-Länge-ziehen dieser Geschichte erfolgt durch den Einsatz von drei weiteren Erzählperspektiven, wovon zwei sich weiteren Zoobesuchern (einem 16-jährigen Mädchen und einer pensionierten Lehrerin) widmen und die dritte sogar hautnah einen der Täter begleitet. Allerdings sind diese Szenenwechsel so selten und so kurz, dass sie die Geschichte kaum voranbringen und auch den Charakteren kaum Raum zur Entfaltung geben. Hier wäre es vielleicht besser gewesen, auf diese zusätzlichen Perspektiven komplett zu verzichten und die Hörer wie die beiden Protagonisten komplett im Ungewissen über die Geschehnisse außerhalb ihrer Hörweite zu lassen, um das Gefühl der Bedrohung noch zusätzlich zu verstärken.
Spannendes Szenario, aber zu viele Längen
So hinterlässt „Nachtwild“ letzten Endes einen etwas zwiespältigen Eindruck: der größte Pluspunkt ist sicherlich das Setting und die damit einhergehende Atmosphäre, welche diesem Roman einen würdigen und originellen Rahmen gibt. Auch die vielen intimen Mutter-Sohn-Momente reißen mit, selbst wenn die Figur des vierjährigen Lincoln nicht immer ganz glaubwürdig wirkt (so erscheint dieser in vielen Momenten viel zu reif für sein junges Alter). Für einen Thriller plätschert die Geschichte aber oft zu sehr vor sich hin und das Versteckspiel von Joan und Lincoln reicht alleine nicht, um die simple Handlung zu tragen. Hörbuchsprecherin Andrea Sawatzki (die kurzen Perspektivwechsel werden von Maren Kroymann, Rike Schmid und Barnaby Metschurat gelesen) gibt sich zwar Mühe, diese Längen zu überbrücken und liest die Geschichte insgesamt sehr einfühlsam, kann aber auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier insgesamt einfach zu wenig passiert.
Charaktere: | |
Story: | |
Atmosphäre: | |
Sprecher: |
7/10