„Want to read something good? […] If you like my stuff, you’ll like this.“
(Quelle: Twitter)

Wenn dieses Lob von niemand geringerem als Bestsellerautor Stephen King höchstpersönlich kommt, dann hat man als Autor/in praktisch den Jackpot geknackt und kann sich eigentlich entspannt zurücklehnen und genüsslich verfolgen, wie das eigene Werk durch die Decke geht. So überrascht es dann auch wenig, dass „Der Kreidemann“ bereits in rund 40 Länder verkauft wurde und dort zumeist auch recht rasant die Bestsellerlisten erobert hat. Vor nicht allzu langer Zeit hat die Autorin C.J. Tudor noch fremde Hunde ausgeführt, um sich die Zeit zum Schreiben finanzieren zu können, jetzt wird sie bereits als „Britain’s female Stephen King“ gefeiert.

Fünf Teenies und die Kreidemännchen – ES 2.0?

Und wenn man sich den Klappentext ihres Romans anschaut und in die ersten Kapitel hineinliest, dann lassen sich tatsächlich einige Parallelen zu einem von Kings erfolgreichsten Büchern überhaupt erkennen: wie beim Kult-Horror „ES“ spielt „Der Kreidemann“ nämlich ebenfalls in einer Kleinstadt, die Geschichte wird auf zwei verschiedenen Zeitebenen erzählt und im Mittelpunkt steht eine kleine Gruppe von Freunden, die man einerseits durch einige turbulente Momente ihrer Kindheit begleitet und dann aber auch als vom Leben geprägte Erwachsene wiedertrifft. Statt eines furchterregenden Clowns mit rotem Luftballon ist der Bösewicht hier jedoch ein mit Straßenkreide bewaffneter Unbekannter, der damals und heute offenbar über Leichen geht und die Stadt mit mysteriösen Botschaften in Atem hält.

Kleinstadt-Horror im der englischen Provinz

Eddie, Fat Gav, Metal Mickey, Hoppo und Nicky – das sind die Protagonisten in C.J. Tudors erfolgreichem Debütroman, wobei ersterer hier als Erzähler fungiert, und zwar einmal als 12-jähriger Junge im Jahr 1986 und 30 Jahre später als alleinstehender Mann Anfang 40, der sich sein Haus mit einer jungen Untermieterin teilt. Dabei beginnt diese Geschichte gleich verstörend und mit den fast schon klassischen Zutaten eines Horrorfilms der 1980er Jahre: eine Gruppe Kinder, ein typischer Kleinstadt-Jahrmarkt und ein dramatischer Zwischenfall, der das vermeintlichen Wunderland in einen schillernden Albtraum verwandelt. Wenig später wird dann auch eine zerstückelte Mädchenleiche gefunden und man fühlt sich beim Lesen direkt, als wäre man in Stephen Kings Horror-Heimat Derry, Maine gelandet.

Piep, piep, Eddie…

Leider kann C.J. Tudor aber im Anschluss an diesen stimmungsvollen Auftakt das Tempo und die Atmosphäre nicht aufrechterhalten und die Geschichte zerfällt auch durch die ständigen Sprünge zwischen den Handlungsebenen zu reichlich Stückwerk. Dabei rückt der Mordfall rund um das tote Mädchen die meiste Zeit in den Hintergrund, stattdessen widmet sich die Autorin ausgiebig ihren Charakteren und deren Gruppendynamik und man erlebt, welche Auswirkungen die Ereignisse des Jahres 1986 auf die Kinder hatten und wie aus den abenteuerlustigen vier Jungen und einem Mädchen die heutigen Erwachsenen geworden sind, die nun mit Alkoholproblemen, Unfallfolgen und unverarbeiteten Traumata zu kämpfen haben. Das ist natürlich grundsätzlich nicht schlecht und hat schließlich auch bei Stephen King hervorragend funktioniert, allerdings bleiben die Charaktere insgesamt doch eher blass und wirken gerade durch den naheliegenden Vergleich zu Kings kultigem „Club der Verlierer“ etwas unnahbar und manchmal sogar auch unsympathisch. Natürlich ist es bei einem 384-seitigen Buch schwierig bis nahezu unmöglich, die charakterliche Tiefe eines 1500-Seiten-Wälzers zu erreichen, trotzdem ist bei mir der Funke nie so richtig übergesprungen und die emotionale Beziehung zu den Figuren blieb eher unterkühlt.

Der Fluch der hohen Erwartungen

Insgesamt ist „Der Kreidemann“ keinesfalls ein schlechtes Buch, vielmehr kämpft es einen ungleichen Kampf gegen die hohe Erwartungshaltung, für die C.J. Tudor selbst wenig kann, schließlich hat sie sich den Stephen-King-Vergleich nicht ausgesucht und wurde von dem ungeheuren Erfolg ihres Buches vermütlich selbst am meisten überrascht. Nach all den Vorschusslorbeeren erwartet man jedoch etwas „Besonderes“ und das ist der Roman trotz guter Ansätze leider nicht. Dabei ist die Geschichte auch durch die schnellen Zeitsprünge durchaus kurzweilig und auch das Zusammensetzen der manchmal etwas ungeordnet wirkenden Puzzlestücke macht Spaß. Für einen Titel, der selbst auf dem Buchcover als „Thriller“ beworben wird, bietet die Handlung aber letztlich einfach zu wenig Nervenkitzel und lässt auch bei der nicht ganz stimmig wirkenden Auflösung zu viele Fragen offen. Trotzdem ist „Der Kreidemann“ immer noch lesenswert, insgesamt wäre bei den vielversprechenden Ansätzen aber mehr drin gewesen.

Der Kreidemann – C. J. Tudor
  • Autor:
  • Original Titel: The Chalk Man
  • Umfang: 384 Seiten
  • Verlag: Goldmann Verlag
  • Erscheinungsdatum: 29. Mai 2018
  • Preis Geb. Ausgabe 20,00 €/Taschenbuch 10,00 €/eBook 9,99 €
Cover:
Charaktere:
Story:
Atmosphäre:
Gesamt:
7/10
Fazit:
Mit ihrem international erfolgreichen Debüt "Der Kreidemann" liefert C. J. Tudor einen unterhaltsamen Spannungsroman mit interessanten Erzählperspektiven, das Buch wird dem großen Hype durch Schwächen in der Charakterzeichnung und zu wenig Nervenkitzel aber leider nicht wirklich gerecht.

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