Man stelle sich vor, man führe das vermeintlich perfekte Bilderbuch-Leben: man ist verheiratet, hat ein kleines Kind, ein eigenen Haus und muss sich auch finanziell keine große Sorgen machen. Doch von einem Tag auf den anderen stürzt dieses so stabil geglaubte Gerüst plötzlich ein: der Ehepartner verschwindet spurlos und Tage, Wochen, Monate und sogar Jahre vergehen ohne eine Antwort auf die Frage, was mit dem geliebten Menschen passiert ist. Genau in so einer tragischen Situation befindet sich die Hauptfigur Sarah Petersen in Melanie Raabes Roman „Die Wahrheit“, ihrem zweiten Werk nach dem sehr erfolgreichen Debüt „Die Falle“. Sarahs Mann Philipp ist vor sieben Jahren auf einer Geschäftsreise in Südamerika verschwunden und trotz kräftezehrender Spurensuche blieb sein Schicksal all die Jahre ungeklärt – ob der reiche Unternehmer von kriminellen Banden entführt wurde oder vielleicht sogar auf der anderen Seite der Welt aus unbekannten Gründen selbst untergetaucht ist, schien für seine Ehefrau für immer ein Rätsel zu bleiben. Dann jedoch erreicht Sarah aus heiterem Himmel die Nachricht, dass Philipp tatsächlich noch am Leben ist und von den deutschen Behörden aus den Fängen von Entführern befreit werden konnte und zurück nach Deutschland gebracht wird. Am Flughafen wartet jedoch auf Sarah statt des langersehnten Wiedersehens der nächste Schock – denn der Mann, der aus dem Flugzeug steigt, ist nicht ihr Ehemann…
Ein Ehemann kehrt nach 7 Jahren in Gefangenschaft zurück – oder doch nicht?
„Die Wahrheit“ beginnt mit einer Situation, die man sich kaum vorstellen kann und welche die Protagonistin verständlicherweise in ein gewaltiges Gefühlschaos stürzt: nach den vielen Jahren der Angst und Unwissenheit hatte sich Sarah fast schon endgültig mit Philipps Verschwinden abgefunden und ist vorsichtig die ersten Schritte Richtung Neuanfang gegangen, als die Vergangenheit sie plötzlich doch wieder einholt und sie in ihrer persönlichen Entwicklung wieder um mehrere Jahre zurückwirft – und das trotz der Aussicht auf die Rückkehr in ein Leben als glückliche Familie. Dieses Szenario alleine wäre schon eine vielversprechende Ausgangssituation, vielleicht nicht unbedingt für einen Psychothriller, aber für ein mitreißendes Familiendrama, denn wer könnte schon vorhersagen, welche Auswirkungen die siebenjährige Trennung unter extremsten Bedingungen für die Beziehung eines Ehepaares hat? Ist eine Wiederaufnahme des Ehe- und Familienlebens überhaupt noch möglich und von beiden Partnern gewollt? Waren die Gedanken an Frau und Kind das einzige, was Philipp all die Jahre am Leben gehalten und ihm die Hoffnung auf Rettung gegeben haben und erwartet ihn nach der Rückkehr nun das böse Erwachen aus seinen Träumen? Und welchen Einfluss hat der enorme Medienrummel, der nach der nicht mehr für möglich gehaltenen Wiedervereinigung auf Sarah und Philipp einprasselt?
Zwischen Absurdität und beängstigendem Albtraum-Szenario
Melanie Raabe setzt aber nochmal einen drauf, denn plötzlich ist der vermeintliche Ehemann gar nicht der Ehemann – oder doch? Denn während die an der Rettung beteiligten Funktionäre von Philipps Identität überzeugt sind und auch der Befreite selbst den zurückgekehrten Ehemann gibt, ist Sarah sicher, diesen Mann noch nie zuvor gesehen zu haben. Die Autorin bewegt sich dabei auf einem schmalen Grad, denn oft wirkt die Geschichte völlig absurd, da ein solches Szenario zum einen grundsätzlich nur schwer vorstellbar scheint, zum anderen mithilfe von Fotos, DNA-Proben oder ähnlichen handfesten Beweisen auch ziemlich schnell aufgeklärt werden müsste. Andererseits schafft es Melanie Raabe dann aber immer wieder, die Situation doch glaubwürdig darzustellen und die Hilflosigkeit ihrer Protagonistin überzeugend zu vermitteln – auch weil sich Raabe einer unzuverlässigen Erzählerin bedient und Sarahs eigenen Verstand immer wieder in Frage stellt. Dadurch wird die Handlung für Hauptfigur und Leser zu einer regelrechten Achterbahnfahrt, die eine enorme Sogwirkung entwickelt, welcher man sich trotz immer wieder auftretenden Unglaubwürdigkeiten nur schwer entziehen kann.
Fesselndes Psychoduell mit schwächelnder Auflösung
In den Grundzügen ist „Die Wahrheit“ Melanie Raabes Erstlingswerk „Die Falle“ gar nicht so unähnlich, denn beide setzen auf relative einfache Mittel mit großer Wirkung und so wird auch das zweite Buch der Autorin im Kern zu einem Psychoduell zweier Figuren, bei welchem man ständig hin- und hergerissen ist, wer denn nun die titelgebende Wahrheit erzählt. Dabei lebt das Buch so sehr von der Neugier nach der Erklärung dieses Rätsels, dass die Geschichte letztlich mit der finalen Auflösung steht und fällt – und hier leistet sich Melanie Raabe leider Schwächen, die einen faden Beigeschmack hinterlassen, denn so richtig will man ihr das Ende nicht abkaufen. Das ist schade, denn so trüben die letzten Seiten einen ansonsten sehr guten Gesamteindruck und dieser Knackpunkt ist es, der „Die Wahrheit“ im Vergleich zu Raabes Debüt etwas zurückfallen lässt. Trotzdem bekommt man hier einen insgesamt guten Psychothriller geboten, der über weite Strecken zu fesseln weiß.
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7/10
Hey,
sehr schöne Rezi, die m.M.n. die Schwächen der Autorin ganz klar benennen, nämlich die Auflösung. Bereits bei ihrem Debüt war ich gefesselt von dem Hin und Her der Figuren und fand mich einzig dadurch angetrieben, zu wissen, wie es am Ende ausgehen wird. Und das Ende war… tja, sehr unglaubwürdig. Ich dachte, das kann nicht ihr Ernst sein. Deshalb habe ich mich an dieses Buch hier nicht gewagt. Und die meisten Rezensionen bestätgien das was du auch gesagt hast. Sehr schade. Aber Krimi ohne ein geniales Ende ist halt nicht viel wert. Guter Schreibstil hin, gute Idee her.
GlG, monerl
Danke dir! 🙂
Ja, das ist irgendwie oft das Problem bei Büchern, die ihre Spannung vorrangig daraus beziehen dass man wissen will was hinter dem scheinbar Unmöglichen steckt und wenn die Auflösung dann nicht total spektakulär/schockierend/überraschend ist, dann ist es oft enttäuschend und macht ein bisschen den Gesamteindruck kaputt.
Ich hatte im Vorfeld auch viele andere eher enttäuschte Meinungen zum Buch gesehen, war dann aber bis kurz vor dem Ende positiv von der Geschichte überrascht – bis ich dann auch die letzten Seiten gelesen habe 😀
Gelungen das Buch beschrieben! Und ich kann dir nur zustimmen – ich fand die Geschichte selbst mehr als spannend und gut aufgebaut, war beim Ende aber auch wenig … nunja … unglücklich! Ich abe das Hörbuch genossen und so floss die Erklärung nicht allzu stark in mein Leseerlebnis ein. Ich muss ehrlich gestehen das es bei einem Print etwas anders ausgesehen hätte – die Sprecherin hatte mich aber einfach in ihren Bann gezogen. Ebenso die Autorin, wenn mal vom Ende abgesehen wird – eigentlich nimmt das großen Einfluss, aber Hörbücher haben eben einen starken Vorteil wenn mir Sprecher*in zusagt 😉
Ja, das habe ich auch häufiger, dass sehr gute Sprecher mich durch eher schwächere Bücher schleppen, bei mir ist das meistens bei Lesungen mit David Nathan so.
Ich hatte mir einfach irgendwie eine spektakulärere Auflösung gewünscht, am Ende war mein Gefühl eher so „wie, das war’s jetzt?“. Trotzdem bereue ich die Lektüre keinesfalls, weil die Stunden bis zur Auflösung mich wirklich gefesselt haben.
Oh ja, David Nathan ist aber auch einfach super!
Ähnlich ging es mir auch bei „Die Falle“, nur siedelt sich die Kritik woanders. Aber grundlegend schreibt sie wirklich gut und perfekt muss es ja nicht immer sein – einnehmend ist es allemal (=
Mich wundert tatsächlich, dass das Buch bei dir so gut abgeschnitten hat, ich hatte irgendwie schlimmeres erwartet^^ Gleichzeitig freut es mich, dass ich die Schwächen als Thriller-Laie ebenso erkannt hab wie du 😀 Ich bin mal gespannt, wie das dritte Buch wird, vielleicht wird dann auch das Ende überzeugender.
Vielleicht hat es geholfen dass meine Erwartungen nach den vielen wenig begeisterten Stimmen zum Buch nicht mehr so hoch waren, mein Gefühl war die meiste Zeit dann eher so „Och, ist doch eigentlich ganz spannend“ 😀 Außerdem kann man mich wenn man es geschickt anstellt auch einfach mit einem interessanten Rätsel über einen ganzen Roman hinweg fesseln, dann fliege ich alleine deshalb schon durch die Seiten weil ich die große Auflösung wissen will. Wenn die dann allerdings nicht so überzeugen kann ist dämpft das dann leider den sonst guten Gesamteindruck.
Was ich bei Melanie Raabe interessant finde ist, dass ihre Bücher anscheinend JEDER liest, egal ob der- oder diejenige sonst im Krimi- oder Thriller-Genre unterwegs ist oder nicht.
Ist eigentlich schon was Neues von der Autorin angekündigt?
Ich mag sie halt als Person auch sehr gern – hab sie auf der Leipziger Buchmesse getroffen, zuerst bei Lovelybooks und dann aufm Klo – und sie ist einfach mega sympathisch. Das war so mein Grund, ihre Bücher zu lesen – und auch die Tatsache, dass es eben keine blutigen Thriller sind^^
Es kommt wohl im Sommer/Herbst was, zumindest wenn man dem glaubt, was sie so postet, aber es gibt noch nichts offizielles. In den neuen Programmen dann^^
Ich mochte Die Wahrheit ja tatsächlich lieber als Die Falle. Irgendwie hat mich der ganze Konflikt mehr interessiert und mitgenommen. Ich glaube, die Auflösung hat mich auch nicht so enttäuscht wie dich, aber wenn ich ganz ehrlich bin, hab ich schon wieder ganz viel davon vergessen ;D Was ich aber noch ganz genau weiß, ist wie beeindruckend ich den Schreibstil der Autorin finde. Total untypisch für das Genre (leider), aber dabei richtig schön.
Was ich bei beiden Büchern bisher sehr mochte waren die Ausgangsidee, irgendwie hat es die Autorin jeweils geschafft mit einfachen Mitteln eine spannende Fragestellung aufzuwerfen, die mich alleine schon so neugierig gemacht dass ich immer weiter lesen wollte.
Ich muss ehrlich gestehen dass ich was Schreibstile betrifft immer so ein kleiner Banause bin, mir fällt der Stil meistens nur dann besonders auf wenn ich ihn besonders schlecht finde 😀 Aber die Autorin schafft es auf jeden Fall, die Gefühlswelt ihrer Figuren gut zu transportieren, mir hat es bei beiden Roman Spaß gemacht in die Köpfe der Protagonisten einzutauchen.
Ich fand das Buch noch stressiger als andere Thriller, die ich gelesen haben. Ich fand das Gefühl der Hilflosigkeit wirklich überzeugend. Wie du gesagt hast ist es nur schade, dass das Ende nicht so gelungen ist.
Stimmt, die Atmosphäre war teilweise sehr beklemmend und auch wenn es zwischendurch immer wieder absurd wirkte, dass die Protagonistin nicht wirklich um Hilfe rufen konnte, so war ihre Situation doch dann wieder auch nachvollziehbar und beängstigend. Wenn das Ende nur überzeugender gewesen wäre…