Kategorie: Rezension
Tags: , , ,
Genre:

Als erfahrener Leser nordisch-kühler Kriminalromane ist man vermutlich schon weit herumgekommen und kennt Stockholm besser als die eigene Westentasche, hat mit Kult-Ermittlern wie Jo Nesbøs Harry Hole oder Henning Mankells Kurt Wallander vermeintliche Verbrechens-Hochburgen wie Oslo oder das beschauliche schwedische Ystad ein klein wenig sicherer gemacht und vielleicht sogar schon den ein oder anderen literarischen Ausflug in einsame Gegenden wie Lappland oder Island unternommen. Doch selbst für derart reisefreudige Krimi-Leser dürfte das Setting von C.R. Neilsons Roman „Das Walmesser“ Neuland sein, denn dieses düstere und oft schwermütige Buch hat die Färöer zum Schauplatz, eine zu Dänemark gehörende Inselgruppe im Nordatlantik, die bei weitem mehr Schafe als Menschen beheimatet – nicht ohne Grund bedeutet der Landesname wortwörtlich „die Schafsinseln“.

Mord auf den Schafsinseln

Mit gerade einmal 50.000 Einwohnern und einer fast nicht existenten Kriminalitätsrate scheinen die Färöer auf den ersten Blick nicht unbedingt die besten Voraussetzungen für einen packenden Krimi zu bieten, für John Callum – C.R. Neilsons Hauptfigur – sind die 18 Inseln jedoch der perfekte Ort, um der eigenen Vergangenheit zu entfliehen und fernab aller früherer Verstrickungen einen Neustart zu wagen. Dass dieser jedoch nicht sonderlich erfolgreich zu verlaufen scheint, wird den Lesern bereits auf den ersten Seiten klar: Callum erwacht nach einer offenbar alkoholgeschwängerten Nacht ohne Kurzzeitgedächtnis, dafür aber mit einem dicken Kater auf einem Steinblock im Hafen Torshavns (der Hauptstadt der Färöer). Noch schlimmer wird es aber bei einem Blick in die eigene Manteltasche, der ein blutbeschmiertes Grindaknívur, das traditionelle und titelgebende Walmesser der Färinger, zu Tage fördert. Als John Callum wenig später erfährt, dass es in der vergangenen Nacht einen Mord gegeben hat, steht der Protagonist nicht nur für den Leser, sondern auch für sich selbst ganz oben auf der Liste der Verdächtigen.

Flucht vor einer düsteren Vergangenheit

Nach diesem blutigen Auftakt dreht der Autor die Zeit aber erst einmal um drei Monate zurück und berichtet in aller Seelenruhe von den ersten Schritten Callums nach seiner Flucht aus dem schottischen Glasgow als nun neuer Bürger der Färöer. Wovor John in seiner Heimat weggelaufen ist, bleibt dabei zunächst ein Geheimnis, man ahnt aber früh, dass der Neu-Färinger bereits dort auf irgendeine Weise mit dem Gesetz in Konflikt gekommen ist. Dabei scheint der Mann in den Mitt-Dreißigern eigentlich gar nicht so ein unsympathischer Zeitgenosse zu sein: vielleicht etwas rau und eher vom Typ einsamer Wolf, trotzdem begegnet Callum seiner neuen Umgebung aufgeschlossen und mit Demut – mit den offenbar dramatischen Ereignissen seiner Vergangenheit im Hinterkopf braucht er nicht viel, um zufrieden zu sein. Ein Dach über dem Kopf, am Tag zumindest eine warme Mahlzeit und ein kleiner Lohn für die Schwerstarbeit in der örtlichen Fischzucht – Callums neue Existenz ist vor allem von Bescheidenheit geprägt.

Kriminalroman und Reiseführer

C.R. Neilson braucht rund 200 der insgesamt 500 Seiten des Buches, um rückblickend die Geschehnisse bis zu jenem bösen Erwachen am Anfang des Romans zu erzählen und für Leser mit kurzem Geduldsfaden dürfte dies vielleicht zu viel sein, um diesem Werk die Wertschätzung entgegenzubringen, die es eigentlich verdient hat. Denn der Autor begegnet dem Schauplatz seiner Geschichte mit viel Ehrfurcht und nutzt die Gegebenheiten, um ein hohes Maß an Authentizität und eine ungemein dichte Atmosphäre zu erzeugen. Gerade in der ersten Hälfte ist „Das Walmesser“ dabei oft mehr Reiseführer als Kriminalroman und auch wenn der Mordfall erst ab der Mitte des Buches wieder zum Thema wird, so ist die Handlung zu keinem Zeitpunkt langweilig – zumindest, wenn man eine gewisse Begeisterung für die Natur und Kultur des hohen Nordens mitbringt. Neilson beschreibt die Sehenswürdigkeiten der Schafsinseln mit beeindruckender Bildhaftigkeit und so anschaulich, dass man die Landschaft und ihre markanten Punkte stets genau vor Augen hat. Auch die Eigenheiten der färingischen Bevölkerung werden vom Autor sehr detailliert eingefangen – mit all ihren Höhen und Tiefen. Zu den Schattenseiten zählt zum Beispiel auch der Grindadrap – der blutige Walfang der Färinger, bei dem innerhalb von wenigen Stunden Dutzende von Meeressäugern regelrecht abgeschlachtet werden. Neilson schildert dies in all seiner Grausamkeit, ohne jedoch die Einwohner der Inseln zu verurteilen und mit der nötigen Achtung vor der Tradition der Färinger – so schockierend und unverständlich diese für Mitteleuropäer in manchen Punkten auch sein mag.

Nicht immer hochspannend, aber mit tollem Schauplatz und packender Atmosphäre

In der zweiten Hälfte wird „Das Walmesser“ dann doch noch zum Kriminalroman, der zwar nicht das ganz hohe Spannungsniveau erreicht, aber doch gekonnt mit der ein oder anderen falschen Fährte spielt und bis zur letzten Seite fesselt – auch, weil der Autor interessante und vielschichtige Charaktere geschaffen hat, die mit ihren Eigenheiten viel zur Faszination dieses Buches beitragen. „Das Walmesser“ ist mit Sicherheit kein Krimi für Jedermann und dürfte für viele Leser zu unspektakulär, zu langsam oder zu schwermütig sein – wer sich aber vor allem aufgrund des ungewöhnlichen und unverbrauchten Settings für C.R. Neilsons Werk interessiert, der bekommt genau das, was die Beschreibung und die damit hervorgerufene Erwartungshaltung verspricht: einen packenden Roman, der das Potenzial seines Schauplatzes voll ausschöpft und mit beeindruckenden Beschreibungen von Natur und Kultur eine düstere und sehr authentische Atmosphäre erzeugt. Auch wenn Neilsons Geschichte sicherlich alles andere als vor Fröhlichkeit und Optimismus strotzt: unterhaltsamere, spannendere und begeisterndere Werbung für die Färöer könnte sich selbst die dortige Tourismusbehörde kaum wünschen und es wäre sicherlich keine Überraschung, wenn es trotz des vielen Regens und der rauen Landschaft in diesem Roman nach Beendigung dieser Lektüre den ein oder anderen Leser zumindest ein klein wenig jucken würde, in den nächsten Flieger in Richtung Schafsinseln zu steigen.

Das Walmesser
  • Autor:
  • Umfang: 512 Seiten
  • Verlag: Heyne
  • Erscheinungsdatum: 28. Dezember 2016
  • Preis Broschiert 14,99 €/eBook 9,99 €
Cover:
Charaktere:
Story:
Atmosphäre:
Gesamt:
8/10
Fazit:
C.R. Neilsons Kriminalroman bietet vielleicht nicht den ganz großen Nervenkitzel, besticht aber mit einem unverbrauchten und beeindruckenden Setting und erzählt eine packende Geschichte, die meisterhaft in die landschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten des Schauplatz Färöer eingebettet ist – ein tolles Leseerlebnis für Krimi-Reisende mit einer Vorliebe für nordisches Flair.

Kommentar verfassen:

5 Antworten zu diesem Beitrag

  • Ich hab es gehört – eben weil ich gelesen hab, dass es sich im Buch ziehen kann – und nicht bereut. Mochte es, wie die Insel so detailgenau beschrieben wird. Man hatte dadurch wirklich das Gefühl sich dort zu befinden :3
    Und genau das schwermütige und „andere“ hat mich überzeugt, das Buch zu mögen!

    • Ich war vorher auch ein wenig skeptisch weil ich die ein oder andere Rezension gesehen hatte denen man entnehmen konnte, dass in dem Buch nicht allzu viel passiert, aber ich wollte es wegen des Färöer-Settings unbedingt lesen.

      Bereut habe ich es auf keinen Fall und ich habe mich auch zu keinem Zeitpunkt gelangweilt, auch wenn die Geschichte tatsächlich eher gemächlich und unspektakulär ist – aber atmosphärisch fand ich das Buch einfach top und ich habe zwischendurch immer wieder im Buch erwähnten Orte gegoogelt weil mich die Beschreibungen so neugierig gemacht haben 😀

  • Hey Sebastian,

    vielen Dank für diese schöne und aussagekräftige Rezension. Du hast mir den Titel tatsächlich näher gebracht, denn viele Rezensionen haben mich schwanken lassen, ob dieses Buch etwas für mich sein könnte.

    Auch wenn es hin und wieder etwas ruhiger zugeht, hat man wenigstens ausreichend Zeit auch die Atmosphäre einzusaugen und die Umgebung zu genießen.

    Liebe Grüße

    Nisnis

    • Freut mich sehr, dass ich dich für das Buch begeistern konnte! 🙂

      Ich hatte vorab auch die ein oder andere Rezension überflogen und war mir nicht sicher, ob sich das Buch auch wegen der Geschichte und nicht nur wegen des Settings lohnen würde, aber wenn man nicht unbedingt Nonstop-Action braucht und gerne auch mal in aller Ruhe Atmosphäre aufsaugt, dann ist dieses Buch meiner Meinung auf jeden Fall die Zeit wert!

      • Zwischendurch mag ich das mal ganz gern. Da ich überwiegend Thriller und Krimis lesen, genieße ich dann auch ein Setting besonders. Und Island, hach, das wäre mal schön ;-).