Für seine Anhänger ist der Regisseur Stanislas Cordova ein begnadetes Genie, der mit seinen sehr verstörenden Werken die Filmbranche jedes Mal aufs Neue revolutioniert. Seine Werke genießen Kultstatus und werden fast ausschließlich auf geheimen Untergrundtreffen gezeigt und auch sein sehr zurückgezogenes Leben hat dafür gesorgt, dass sich um den Filmschöpfer ein regelrechter Mythos aufgebaut hat. Der Journalist Scott McGrath verbindet mit Cordova jedoch in erster Linie sein größtes Scheiterns, seit er auf eine unzuverlässige Quelle hereingefallen ist und dem Regisseur vor laufenden TV-Kameras einen ungesunden Umgang mit Kindern unterstellt hat. Daraufhin wurde McGrath von den Vertrauten des Regisseurs systematisch vernichtet und öffentlich bloßgestellt, sodass er als Reporter jegliche Glaubwürdigkeit verloren hat. Als sich Jahre nach diesem Vorfall jedoch Cordovas junge Tochter Ashley das Leben nimmt, erhält McGraths Besessenheit von dem Skandalregisseur neue Nahrung und er setzt alles daran, die wahren Gründe für den tragischen Selbstmord ans Licht zu bringen – und dadurch auch sein Cordova-Trauma vergessen zu machen…
Wer ist der skandalumwitterte Regisseur Stanislas Cordova?
Seine Filme sind so schrecklich, dass man nach deren Betrachtung nicht mehr der gleiche Mensch ist; er hat seine eigenen Jünger, die in geheimen Internetforen die Werke und das mysteriöse Leben ihres Idols bis ins kleinste Detail analysieren; die Mitarbeiter seiner Filmsets und seine Schauspieler berichten von Begegnungen mit schier hypnotisierender Wirkung; seine Filme sind aufgrund ihrer verheerenden Wirkung nicht frei zugänglich und er selbst hat sich seit mehr als drei Jahrzehnten nicht mehr in der Öffentlichkeit blicken lassen: Stanislas Cordova, berüchtigter Filmregisseur und Dreh- und Angelpunkt von Marisha Pessls Mystery-Thriller „Night Film“ (dt. „Die amerikanische Nacht“). Dabei gehört Cordova selbst gar nicht mal zu den Protagonisten dieses rund 600 Seiten umfassenden Romans und macht sich im Buch genauso rar wie in der öffentlichen Berichterstattung, trotzdem ist der ihn umgebende Mythos omnipräsent – vor allem für Reporter Scott McGrath, der regelrecht besessen davon ist, die vermeintlich abscheulichen Taten des skandalumwitterten Regisseurs zu enthüllen und dabei schon einmal böse gestürzt ist, was seiner Karriere einen herben Dämpfer verpasst hat. Seine damalige Falschmeldung hat ihn nicht als Folge einer Verleumdungsklage eine Menge Geld und seinen halbwegs guten Ruf, sondern wenig später auch seine Familie gekostet – seine Ehe ging zu Brüche und seine Tochter sieht er seitdem nur noch an vereinzelten Wochenenden. Eigentlich sollte man meinen, nach einer derart schlimmen Erfahrung würde McGrath einen weiten Bogen um den Namen Cordova machen, doch als sich die Tochter des Regisseurs in einem leeren Aufzugsschacht und den Tod stürzt, wird seine Neugier wieder geweckt – ist vielleicht doch etwas Wahres an den Gerüchten, dass Cordova Kindern schreckliche Dinge zufüge und hat der Mann vielleicht sogar seine eigene Tochter in den Selbstmord getrieben?
Ein clever inszenierter Mythos
Um die Besessenheit McGraths mit dem Skandal-Regisseur nachvollziehbar zu machen, muss man natürlich auch den Mythos um Cordova für die Leser greifbar machen, und das gelingt Marisha Pessl bereits sehr früh – auch, weil sie ihre Geschichte von Anfang an mit kleinen Extras wie Zeitungsartikeln, Ausschnitten aus Internetforen oder Mitschnitten von Polizeibefragungen aufwertet. Diese liefern nicht nur interessantes Hintergrundwissen, sondern erzeugen auch schnell eine sehr spezielle Atmosphäre, da die Geschichte dadurch sehr glaubwürdig und Cordova fast als tatsächlich existierende Persönlichkeit erscheint. Pessl ist mit der Figur des Regisseurs ein kleines Meisterwerk gelungen, denn ohne dass Cordova selbst in Erscheinung tritt fühlt man nahezu auf jeder Seite die Präsenz des Mannes und lässt sich so leicht von der Besessenheit und auch der Paranoia des Journalisten anstecken – man will einfach unbedingt wissen, was es mit diesem Mann auf sich hat und ob all die schlimmen Gerüchte um ihn tatsächlich wahr sind. Es lockt hier permanent der Reiz des Verbotenen und so würde man beim Lesen häufig selbst gerne mal einen Blick auf die berüchtigten Filme des Regisseurs werfen – hier hat die Autorin bei der Charakterisierung Cordovas wirklich hervorragende Arbeit geleistet.
Eine zähe, aber dennoch faszinierende Spurensuche
Die Spurensuche gestaltet sich aber nicht durchgängig aufregend, sondern wird gerade im Mittelteil auch ein wenig zum Geduldsspiel, denn McGrath und sein kleines Ermittlerteam, bestehend aus ihm, der erfolglosen Möchtegern-Schauspielerin Nora (die letzte Person, die Ashley Cordova vor ihrem Suizid gesehen hat) und dem zwielichtigen Junkie Hopper (ein Freund der Toten), stoßen bei ihren Nachforschungen auf zahlreiche Hindernisse und landen in so mancher Sackgasse, sodass das Spannungsniveau mitunter einigen Schwankungen unterliegt. Ein anderer kleiner Schwachpunkt ist die Figur des Scott McGrath, da dieser über weite Strecken des Romans ziemlich unfähig wirkt und eigentlich nur durch den Zufall oder fremde Hilfe auf vielversprechende Hinweise stößt – hier hätte ich mir einen charakterstärkeren Helden gewünscht, allerdings hätte dann vielleicht das Verwirrspiel nicht ganz so gut funktioniert, weil „Night Film“ eben auch aus den charakterlichen Schwächen der Figuren einen gewissen Reiz bezieht, da diese die Protagonisten angreifbar und empfänglich für den Mythos Cordova machen.
Ein surrealer Mystery-Krimi mit enormer Sogwirkung
„Night Film“ ist ein Roman mit ungeheurer Sogwirkung, der in erster Linie tatsächlich von der ungemein intensiven und sehr surrealen Atmosphäre lebt, die ihren Höhepunkt in einem rund 60-seitigem, albtraumhaften Kapitel im Schlussdrittel des Buches hat. Wenn man mit den Verschwörungen um den Skandalregisseur nichts anfangen und die Vorstellung einer aufreibenden und oftmals auch ernüchternden Spurensuche in Verbindung mit dem nicht unerheblichen Umfang des Romans eher abschreckend findet, der wird mit Marisha Pessls Werk wohl wirklich nicht viel Freude haben. Wenn man aber auch nur ein wenig Faszination für düstere Film-Noir-Streifen aufbringen kann oder eine Reihe von Stanley-Kubrick-DVDs im Regal stehen hat, sollte sich diesen abgründigen Mystery-Krimi unbedingt einmal näher anschauen. Das Ende wird allerdings wohl ebenfalls die Gemüter spalten, denn wenn man über fast 600 Seiten einen Mythos zelebriert, wird es bei der Auflösung sehr schwierig, die hohen Erwartungen der Leser angemessen zufriedenzustellen. Meiner Meinung nach hat die Autorin hier aber eine durchaus ordentliche Lösung gefunden, die gut zum Charakter des Buches passt. Ein kleiner Hinweis zum Schluss: Leser mit Smartphone können noch in den Genuss von Zusatzmaterial kommen, denn mit der „Night Film Decoder“-App lassen sich an manchen Stellen im Buch per Scan eines versteckten Symbols Multimedia-Inhalte abrufen – darunter z.B. Interviews, Musikstücke oder Filmplakate –, die zwar fürs Verständnis der Geschichte nicht nötig sind, aber nochmal ein wenig zur besonderen Atmosphäre des Werkes beitragen.
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8/10