Sanctuary_Rezi

Mitten im Nirgendwo Südosttansanias machen die Entwicklungshelfer Christopher und Max eine ungewöhnliche Entdeckung: Sie stoßen auf eine fußballgroße schwarze Kugel, die wie von Zauberhand in der Luft schwebt. Der Versuch einer Untersuchung des Objekts führt schließlich dazu, dass sich die Kugel plötzlich vergrößert und fast augenblicklich einen Durchmesser von mehreren Metern erreicht – und das Wachstum scheint sich weiter rasend schnell zu beschleunigen. Innerhalb weniger Stunden ist das Phänomen bereits zu einer kilometerhohen Kuppel angewachsen, die alles Leben unter ihrer schwarzen Hülle verschlingt und sich bedrohlich schnell über ganze Länder ausbreitet. Zur gleichen Zeit beobachtet die US-Regierungsmitarbeiterin Catherine Strive auf Satellitenbildern eine weitere spektakuläre Anomalie: Mitten im Pazifik entsteht innerhalb von nur wenigen Augenblicken ein völlig neuer Kontinent. Während in Afrika Millionen von Menschen vor der schwarzen Wand flüchten, beginnt auf der anderen Seite der Welt ein erbitterter Wettstreit um die Erschließung von „Pacifica“…

Weltuntergang auf der einen Hälfte des Globus, ein neuer Kontinent auf der anderen

Viele Autoren lassen es in ihren Debütromanen zunächst eher ruhig und vorsichtig angehen, Andreas Kammel stellt bei seinem Erstlingswerk „Sanctuary – Letzte Zuflucht“ aber gleich einmal innerhalb der ersten beiden Kapitel das komplette Weltbild auf den Kopf – und das gleich in zweifacher Hinsicht: Während sich in Tansania nämlich eine plötzlich aufgetauchte mysteriöse Kugel in rasender Geschwindigkeit zu einer kilometergroßen und alles verschlingende Walze entwickelt, schießt mitten im Pazifik genauso überraschend eine riesige Landmasse aus dem Meer und die Welt ist innerhalb von nur wenigen Sekunden um gleich einen ganzen Kontinent reicher. Über einen zu unspektakulären Einstieg in die Geschichte kann man sich also schon einmal wahrlich nicht beschweren, wenngleich die Reaktion der Welt auf diese beiden unglaublichen Phänomene vielleicht zunächst etwas seltsam anmutet: So lange die schwarze Wand lediglich die offenbar eher unwichtigen Dritte-Welt-Länder unter sich begräbt, scheinen die Industrienationen eher mit Neugier statt Panik nach Afrika zu blicken und nachdem der unmittelbar entbrannte Wettlauf um den neuen Kontinent „Pacifica“ frühzeitig zugunsten der Amerikaner entschieden ist, gewöhnt man sich allerorts offenbar auch recht schnell an das neue geografische Weltbild.

Katastrophen-Roadtrip und Politthriller in einem

Andreas Kammel zieht seinen 800-Seiten-Roman mittels zweier zentraler Handlungsstränge auf: An der Seite der beiden Entwicklungshelfer Christopher und Max sowie dem Waisenkind Mtoto flüchtet man in einer Art Katastrophen-Roadtrip vor der sich unaufhaltsam ausbreitenden Wand, während in Amerika die Regierungsbeamtin Catherine die Erschließung des neuen Kontinents koordiniert. Kurzweilig sind dabei beide Erzählebenen: Während der eher etwas actionorientierte Leser bei dem verzweifelten Überlebenskampf des unfreiwilligen Reise-Trios auf seine Kosten kommt, geht die Pacifica-Handlung eher in Richtung Politthriller, denn Catherine muss bei ihrer Arbeit nicht nur internationalen Entwicklungen und Rivalitäten berücksichtigen, sondern auch innerhalb der US-Administration gegen zahlreiche Widerstände kämpfen. Diese Zweiteilung macht es dem Leser recht einfach, den Geschehnissen zu folgen und in der bereits überraschend ereignisreichen ersten Buchhälfte stets den Überblick zu behalten, denn auf den ersten 400 Seiten passiert bereits so viel, dass man sich zwischenzeitlich schon fast fragt, was auf den restlichen Seiten überhaupt noch groß geschehen kann.

Wenn 800 Seiten immer noch zu kurz sind…

Meiner Meinung nach stimmt aber bei diesen Ereignissen oft die Gewichtung nicht ganz. Während z.B. vom Plan eines Atombomben-Einsatzes zum Aufhalten der Wand bis zu dessen Ausführung nur eine Handvoll Seiten vergehen oder auch ein spektakuläres Video nur Minuten nach dessen Vorführung bereits als Fälschung entlarvt wird, werden eher unbedeutende Details mit deutlich mehr Aufmerksamkeit bedacht, gerade was die einzelnen Stationen des Roadtrips betrifft. Dieses Problem zieht sich ein wenig durch den gesamten Roman, da Andreas Kammel die enorme Komplexität seiner Geschichte mitunter ein wenig zum Verhängnis wird. So ist der Autor zwar sichtlich bemüht, alle globalen Konsequenzen der beiden Phänomene abzudecken und geht u.a. auf Klimaveränderungen, weltweite politische Entwicklungen, den Zusammenbruch der bisherigen Gesellschaftsstrukturen, logistische Schwierigkeiten bei der Evakuierung von Flüchtlingen oder der Besiedelung des neuen Kontinents und viele weitere Aspekte ein, so absurd es aber bei einem mehr als 800 Seiten umfassenden Roman jedoch klingen mag: „Sanctuary“ ist dennoch zu kurz für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit allen wichtigen Komponenten und könnte locker den doppelten Umfang aufweisen – ein 2000-Seiten-Wälzer dürfte auf die meisten Leser jedoch eine noch abschreckendere Wirkung haben und wohl zu erheblichen Vermarktungsschwierigkeiten führen.

Komplex, aber oft nicht komplex genug

Ich für meinen Teil hätte mir an vielen Stellen einfach mehr Erklärungen gewünscht. So kommt für meinen Geschmack z.B. die wissenschaftliche Untersuchung der Phänomene selbst viel zu kurz, was mich gerade in Bezug auf den persönlichen Hintergrund von Andreas Kammel – der Autor legte seinen Master in Physik bei niemand geringerem als Stephen Hawking ab – doch überrascht hat. Ich hätte mir schlicht mehr Ausführungen darüber gewünscht, woraus die Wand zusammengesetzt ist, wie ein Kontinent rein technisch gesehen über Nacht einfach so aus dem Meer schießen kann und so weiter – natürlich ist mir schon klar, dass es sich hierbei um Fiktion handelt, aber bei solchen spektakulären Naturphänomenen will ich persönlich einfach mehr über die Entstehung wissen und nicht unbedingt, ob Max und Christopher während ihrer Flucht vielleicht nicht doch noch ihre Beziehungsprobleme lösen können, auch wenn andere Leser das sicherlich anders sehen werden. Wenn man „Sanctuary“ mit vom Konzept her durchaus ähnlichen Werken wie Frank Schätzings „Der Schwarm“ oder Kazuaki Takanos „Extinction“ vergleich, kommt mir der naturwissenschaftliche Aspekt hier einfach zu kurz.

Ein globales Abenteuer mit etwas beschränkten Perspektiven

So hätte ich mir z.B. auch von der Erschließung Pacificas deutlich mehr Expeditions-Feeling erhofft, leider gibt es aber meist nur Kurztrips zum neuen Kontinent, bei denen es dann eher um logistische Schwierigkeiten und den Konkurrenzkampf zwischen Amerikanern und Chinesen geht. Vielleicht wäre es hier besser gewesen, statt der leserfreundlichen Aufteilung der Geschichte auf nur zwei Handlungsstränge noch mehr Erzählperspektiven einzubauen: beispielsweise ein Team von Wissenschaftlern, das auch tatsächlich AUF Pacifica den Kontinent erforscht, ein/e Enthüllungs-Journalist/in, der/die internationalen Missstände und Ungerechtigkeiten aufdeckt und die Verantwortlichen in öffentliche Erklärungsnot bringt, andere von der Wand betroffene Durchschnittsbürger etc. Dafür dass „Santuary“ ein derart globales Werk ist, beschränkt sich die Geschichte für mich zu sehr auf eher privilegierten Charakteren, die dank gewisser Beziehungen eine deutlich größere Chance auf das Überleben haben – dies gilt ohnehin für Regierungsmitarbeiterin Catherine, aber auch für das Flüchtlings-Trio Christopher, Max und Mtoto, das meiner Meinung nach zu oft vom Schicksal bevorteilt wird. Zudem sind die Kapitel für mich häufig jeweils ein wenig zu lang geraten und wechseln sich zu selten ab, sodass hin und wieder die oft wirklich gut gesetzten Cliffhanger fast schon ein wenig in Vergessenheit geraten.

Spannender, aber nicht immer ganz ausgereifter Katastrophen-Blockbuster

Obige Ausführungen klingen nun vermutlich negativer, als es eigentlich beabsichtigt war, denn insgesamt ist „Sanctuary – Letzte Zuflucht“ trotz des zunächst vielleicht etwas abschreckenden Umfangs ein durchweg interessanter und die meiste Zeit auch kurzweiliger Katastrophen-Roman, der sich mit seiner guten Mischung aus spannender Action und ambitionierter Komplexität sehr gut als Sommer-Blockbuster eignet. Dabei punktet Andreas Kammel vor allem mit seinem originellen und faszinierenden Ausgangsszenario, das gerade in der sehr ereignisreichen ersten Hälfte durch die zahlreichen Konsequenzen der Phänomene keine Langeweile aufkommen lässt. Für meinen persönlichen Geschmack hätte das Buch jedoch in einigen Punkten gerne NOCH detaillierter und komplexer sein können und auch was die Auflösung betrifft hätte ich mir insgesamt ein etwas konkreteres Ende gewünscht, wenngleich Kammels Erklärung grundsätzlich nicht uninteressant ist und auf jeden Fall unerwartet kommt. Wer für den Sommerurlaub noch auf der Suche nach einem packenden Katastrophen-Thriller ist, der nicht nur auf plumpe Action setzt, sondern auch die Gehirnzellen fordert und zum Nachdenken anregt, der trifft mit „Sanctuary – Letzte Zuflucht“ von Andreas Kammel sicherlich eine gute Wahl.

Sanctuary – Letzte Zuflucht
  • Autor:
  • Umfang: 816 Seiten
  • Verlag: Knaur TB
  • Erscheinungsdatum: 1. Juli 2015
  • Preis Taschenbuch 14,99 €/eBook 12,99 €
Cover:
Charaktere:
Story:
Atmosphäre:
Gesamt:
7/10
Fazit:
Andreas Kammel nimmt seine Leser mit auf einen dramatischen Roadtrip um die Welt und legt mit seinem Erstlingswerk „Sanctuary – Letzte Zuflucht“ einen spannenden Katastrophen-Roman mit einer originellen und zugleich komplexen Story hin, bei der die Gewichtung aber nicht immer ganz stimmig ist und manche tiefergehenden Ausführungen wohl dem Unterhaltungsfaktor zum Opfer gefallen sind.

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Eine Anwort zu diesem Beitrag

  • Von Jens Mander am 22. Jun 2016 um 23:54

    In der letzten Zwischenüberschrift verwendest du das Wort ‚Blockbuster‘ falsch 😉

    Ich habe Kammels Werk als Hörbuch von Audible und werde nach einigen Stunden nun aufhören, mich damit zu beschäftigen. Deiner Kritik stimme ich weitgehend zu. Insbesonder nervt, dass Dinge ohne weitere Erklärung passieren, zu oft der Fokus thematisch falsch gesetzt scheint und zu viel Wert auf soziale Details gelegt wird.

    Viele Grüße