Day Four_Rezi

Eine fünftägige Kreuzfahrt im Golf von Mexiko mit Zwischenstopps an malerischen Stränden, ein abwechslungsreiches Animationsprogramm, Wellness pur, 5-Sterne-Menüs und Bordpersonal, das einem jeden Wunsch von den Lippen abliest – was im Reisekatalog so perfekt klang, entwickelt sich für die Passagiere des Kreuzfahrtschiffes „The Beautiful Dreamer“ zu einem wahren Albtraum: Am vierten Tag der Reise fällt plötzlich die Elektrizität des Schiffes aus und die fast 3000 Menschen an Bord treiben hilflos mitten auf dem Ozean – ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt, da auch die Funkverbindung zum Festland komplett zusammengebrochen ist. Für den Ausfall der Technik scheint niemand eine Erklärung zu finden und mit jeder Stunde ohne Informationen und Strom droht die Stimmung unter den Reisenden immer weiter zu kippen, zumal sich auch die hygienischen Zustände an Bord immer weiter verschlechtern. Doch das ist nicht das einzige Problem, denn auf der „Beautiful Dreamer“ häufen sich überdies einige unerklärliche Vorfälle, die Passagieren und Crew noch zusätzlich aufs Gemüt schlagen…

Vom Flugzeug aufs Schiff oder: Eine Fortsetzung, die keine ist

Der Mystery-Thriller „The Three“ (dt. „Die Drei“) über eine Serie von unerklärlichen Flugzeugabstürzen von Sarah Lotz zählte zu meinen absoluten Lesehighlights des vergangenen Jahres, demzufolge habe ich seit Monaten Lotz’ neuem Roman „Day Four“ entgegengefiebert. Eines direkt vorweg, weil sowohl die Verlagsinfos und das passend zu „The Three“ gestaltete Coverdesign möglicherweise zu Missverständnissen führen könnten: „Day Four“ ist KEINE Fortsetzung, sondern erzählt eine eigenständige und (zumindest mehr oder weniger, aber dazu später mehr…) in sich abgeschlossene Geschichte – diese spielt aber im gleichen Universum wie der vermeintliche Vorgänger, sodass die Flugzeugabstürze hin und wieder am Rande thematisiert und auch wenige bekannte Charaktere manchmal kurz erwähnt werden. Es ist aber für das Textverständnis ganz eindeutig nicht notwendig, „The Three“ gelesen haben zu müssen, sodass sich auch Neueinsteiger auf diese abenteuerliche Kreuzfahrt ins Ungewisse wagen dürfen.

Eine Kreuzfahrt in die Katastrophe: gestrandet auf hoher See

Hier gilt es leider ebenfalls, die Erwartungshaltung ein wenig zu dämpfen, denn von Abenteuer ist in der Geschichte lange Zeit nichts zu spüren. Zwar fasst Sarah Lotz die ersten drei Tage an Bord der „Beautiful Dreamer“ schon kurz und knapp mit dem einzig aus den Worten „Cruise is relatively uneventful“ bestehenden Auftaktkapitel zusammen und geht direkt zum schicksalhaften vierten Tag der Kreuzfahrt über, dennoch passiert an Bord des Schiffes zunächst einmal äußerst wenig. Während den Passagieren von der Crew nach und nach schonend beigebracht wird, dass man zunächst einmal mitten auf See „gestrandet“ sei und sich doch bitte in Geduld und Ruhe üben möge, nutzt Sarah Lotz die Anfangsphase, um die Hauptfiguren ihrer Geschichte einzuführen. Wie schon in „The Three“ wird die Handlung auch diesmal aus der Sicht von mehreren Charakteren beschrieben, wobei Lotz vorerst auf den vom „Vorgänger“ bekannten „Found Footage“-Stil verzichtet und die Ereignisse ganz gewöhnlich aus der dritten Person schildert. So trifft man dann von Kapitel zu Kapitel die Beteiligten dieser Story: eine junge Frau, die den undankbaren Job der Assistentin einer bekannten Hellseherin/Scharlatanin verrichten muss, zwei ältere Damen, die sich auf dem Kreuzer zum gemeinsamen Selbstmord verabredet haben, diverse Mitglieder der Crew vom einfachen Zimmermädchen über den Schiffsarzt bis hin zum Security-Mitarbeiter sowie ein leidgeprüfter Ehemann mit dunklem Geheimnis – nur der Blogger Xavier fällt stilistisch ein wenig aus der Masse heraus und tritt in Gestalt seiner kurzen Blogeinträge zur Lage an Bord auf.

Anspannung statt Spannung

Die erste Buchhälfte ist dann auch ein wenig vergleichbar mit der Situation der Menschen an Bord: Durch den kompletten Ausfall der Elektronik ist der Betrieb des Schiffes nahezu völlig zum Erliegen gekommen und das spüren nicht nur die Passagiere, die auf warme Mahlzeiten, Fernsehen oder die gewohnte Funktion der sanitären Anlagen verzichten müssen, sondern auch die Leser. Auf einem schon etwas in die Jahre gekommenen Kreuzfahrtschiff gibt es in einer solchen Lage einfach nicht viel zu erleben, und so vegetieren die meisten Reisenden mehr oder weniger vor sich hin, während die Geschichte ungefähr genauso schnell voranschreitet wie die „Beautiful Dreamer“ auf hoher See: wenig bis gar nicht. Das klingt ziemlich langweilig und wenn man es mit Sarah Lotz böse meint ist es das wohl auch, dennoch ist das gemächliche Erzähltempo meiner Meinung nach nicht das Problem von „Day Four“, denn die Autorin schafft es durch das Beschreiben fast banaler Situationen, dass man sich beim Lesen gut in die Situation der Menschen hineinversetzen kann und man dadurch fast selbst zum ungeduldigen Passagier wird, der zunehmend angespannt darauf wartet, dass endlich etwas passieren möge. Ich fand die erste Hälfte auch nicht langatmig, weil mir persönlich einfach der Schreibstil von Sarah Lotz gut gefällt und ich auch die Charaktere interessant fand – schließlich war auch „The Three“ wahrlich kein Highspeed-Thriller, sondern funktionierte in erster Linie über das Schaffen einer sehr besonderen Atmosphäre und einen eher subtilen Spannungsaufbau. Und stimmungsvoll ist die Reise auf der „Beautiful Dreamer“ auf jeden Fall, wenngleich auch wohl anders als man es vorher erwartet hätte: Trotz gelegentlicher unerklärlicher Phänomene und Sichtungen und der groß angekündigten „Killer an Bord“-Story (die im übrigen relativ belanglos ausfällt) bleiben die Mystery-Elemente eher rar, stattdessen überträgt sich vielmehr die Anspannung der Reisenden in ihrer Ausnahmesituation auf den Leser.

Langes Vorgeplänkel für den furiosen Schlussakt

Der Knackpunkt an „Day Four“ ist für mich somit nicht, dass die Geschichte zu ruhig ist, sondern eher, dass das Verhältnis nicht stimmt: Von den 340 Seiten der Paperback-Ausgabe sind streng genommen 286 Seiten ein sehr langer Prolog für den finalen Akt, der dann nicht nur einen inhaltlichen, sondern auch stilistischen Twist bietet – plötzlich ist „Day Four“ nämlich wie aus heiterem Himmel genau das, was man sich von Anfang an erhofft hätte: mysteriös, verstörend, unerklärlich, verwirrend und überwältigend. Das letzte Kapitel hatte all das, was ich schon an „The Three“ so sehr geliebt hatte und man fragt sich beim Lesen, warum man nur so lange auf diesen Schub warten musste. Leider ist dieser Rausch aber auch schon sehr schnell wieder vorbei und man kommt sich vor wie auf einer Achterbahn, die erst schier unendlich lange gemächlich in die Höhe gezogen wird und dann nach wenigen extrem spektakulären Sekunden schon wieder in die Station fährt: gerade wenn es genial wird, ist auch schon wieder Schluss. Zudem setzt Sarah Lotz wie schon bei „The Three“ auf ein offenes Ende, was ich prinzipiell recht faszinierend finde, weil so viel der Fantasie des Leser überlassen wird – im Fall von „Day Four“ ist dies aber eindeutig viel zu viel, da innerhalb kürzester Zeit unzählige Fragen aufgeworfen werden, davon aber nur ein Bruchteil beantwortet und man zum Ende hilflos (und wohl auch ein wenig verärgert) zurückgelassen wird. Für mein Empfinden ist das Buch schlicht rund 100 Seiten zu kurz, denn die wenigen Informationen, die Sarah Lotz zum Schluss offenbart, reichen für mich einfach zum nötigen groben Verständnis der Geschichte nicht aus, und das ist dann eben nicht zum Weiterdenken anregend, sondern nur frustrierend.

Kein schlechtes Buch, das aber im Vergleich mit „The Three“ Schiffbruch erleidet

Somit kann „Day Four“ für mich leider bei weitem nicht an die Genialität von „The Three“ anknüpfen und entpuppt sich leider als kleine Enttäuschung: Mir hat das Buch trotz des gemächlichen Tempos und der über weite Strecken unspektakulären Geschichte zwar gefallen und ich habe mich auch nicht gelangweilt, insgesamt lässt mich der Roman aber gerade aufgrund des äußerst unbefriedigenden Schlusses recht unzufrieden zurück. Wer „The Three“ geliebt hat, darf dieser Kreuzfahrt unter Voraussetzung einer gedämpften Erwartungshaltung durchaus eine Chance geben, wer aber schon mit dem Flugzeug-Thriller nicht viel anfangen konnte dürfte hier wohl erst recht nicht auf seine Kosten kommen.

Day Four
  • Autor:
  • Umfang: 340 Seiten
  • Verlag: Hodder & Stoughton
  • Erscheinungsdatum: 21. Mai 2015
  • Preis Taschenbuch 15,95 €/eBook 9,99 €
Cover:
Charaktere:
Story:
Atmosphäre:
Gesamt:
7/10
Fazit:
Sarah Lotz kann mit ihrem Kreuzfahrt-Albtraum „Day Four“ leider nicht an die Klasse von „The Three“ anknüpfen, was trotz erneut stimmiger Atmosphäre vor allem auf die viel zu lange und gemächliche Hinführung auf den turbulenten Schlussakt zurückzuführen ist – dieser ist dann zwar endlich das erhoffte Mystery-Feuerwerk, lässt einen aber mit deutlich zu vielen Fragezeichen zurück.

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Eine Anwort zu diesem Beitrag

  • Schade, dass das Buch so unausgewogen ist. Ich habe „Die Drei“ erst diese Woche gelesen und beim Nachfolger auf etwas ähnliches gehofft.