Die Stadt Bulikov war einst das politische und kulturelle Zentrum der Welt: Unter dem magischer Einfluss einiger Gottheiten lebten die Bewohner in Frieden und Wohlstand und prunkvolle Bauten prägten das eindrucksvolle Stadtbild. Doch diese Zeiten sind längst vorbei, denn seit sich die vom Kontinent unterdrückten Saypuri zum Widerstand aufgeschwungen haben und auf immer noch nicht geklärte Weise die Götter vernichteten, haben sich die Kräfteverhältnisse komplett umgekehrt und Bulikov ist zu einer Stadt der Sklaven geworden. Mit den Gottheiten verschwanden auch ihre Werke, sodass die Stadt ihren Glanz völlig verloren hat und Ruinen und halbfertige Gebäude zurückgeblieben sind. Die Geschichte und Kultur Bulikovs wurde von den Saypuri nahezu vollständig ausgelöscht und das Anbeten der alten Götter oder ein Verstoß gegen die totale Zensur unter strenge Strafe gestellt. Als eines Tages saypurischer Professor ermordet wird, droht die angespannte Situation zu eskalieren und die junge Botschafterin Shara Tivani wird nach Bulikov entsandt, um das Verbrechen diskret aufzuklären und einen weiteren schweren Konflikt zu verhindern…
Bulikov – ein Pulverfass mit komplexem historischen Hintergrund
Es ist ein äußerst brisantes Setting, in das Robert Jackson Bennett seine Leser in seinem Fantasy-Roman „City of Stairs“ verschlägt: Die Stadt Bulikov ist seit dem erbittert Krieg, der die Bewohner des Kontinents als ehemals wohlhabende Machthaber in ein Leben in Unterdrückung gestoßen hat, ein ständiger Brandherd. Die Saypuri, zuvor nur die Sklaven Bulikovs, haben die Macht in der Stadt an sich gerissen und die Bewohner komplett ihrer Identität beraubt. Machthaber wurden zu Sklaven und Sklaven zu Machthabern und Bulikov ist mehr denn je ein Pulverfass, das mit jeder noch so kleiner Auseinandersetzung der beiden Völker zu explodieren droht. So faszinierend und spannungsvoll das Szenario auch sein mag, man braucht zugegebenermaßen eine Weile, um sich in der Machtstruktur Bulikovs zurechtzufinden. Der Autor wirft seine Leser nämlich ein wenig ins kalte Wasser und bereitet die komplexen historischen Hintergründe der Stadt oft nur in Form kleiner Texteinschübe auf, die den eigentlichen Kapiteln vorangestellt werden. Dabei muss man sich nicht nur mit einigen komplizierten Namen und unbekannten Begriffen auseinandersetzen, sondern auch das ebenfalls nicht gerade simple System der früheren Gottheiten nach und nach erschließen. Das alles wird zwar mit jeder neuen Information immer spannender, erfordert aber schon ein wenig Geduld und Mühe.
Ein Krimi vor Fantasy-Kulisse
Da ist es hilfreich, dass die eigentliche Story zunächst vergleichsweise simpel daherkommt: Ein Intellektueller der herrschenden Saypuri, dem es im Gegensatz zu den Stadtbewohnern erlaubt war, die Geschichte Bulikovs zu studieren, wurde ermordet und die junge Botschafterin Shara Tivani kommt in die Stadt, um dieses Verbrechen aufzuklären. Im Kern ist „City of Stairs“ im Prinzip also fast schon ein gewöhnlicher Krimi, der sich aber in einem alles andere als gewöhnlichen Setting abspielt. Der Mordfall bildet dazu zugleich den roten Faden bei der parallel ablaufenden Aufarbeitung der Vergangenheit, denn im Konflikt zwischen Saypuri und dem Kontinent gibt es immer noch zahlreiche unaufgeklärte Mysterien, allen voran z.B. die Frage, wie es die eigentlich kräftemäßig unterlegenen ehemaligen Sklaven geschafft haben, die mächtigen Gottheiten Bulikovs zur Strecke zu bringen. Das ist schon spannend geschrieben und auch wenn ein Großteil der Geschichte aus Dialogen besteht, so gibt es doch immer wieder packende (und stellenweise auch recht drastische) Actionszenen, die das Ganze ein wenig auflockern.
Spannend, atmosphärisch und mit starken Charakteren
Ein weiterer Pluspunkt des Buches sind seine Charaktere: Shara Tivani ist nicht nur sympathisch, sondern entpuppt sich auch schnell als starke und manchmal zudem etwas sture Persönlichkeit, die sich furchtlos auch gegen Widerstände durchzusetzen weiß. Absolutes Highlight ist aber Sharas ungewöhnlicher Begleiter Sigrud, der einem der wilden Völker in Bennetts Fantasy-Welt abstammt und als rechte Hand der Botschafterin fungiert. Und Sigrud gibt als einäugiger Riese nicht nur optisch ein skurriles Bild ab, sondern dürfte sich als treuer Verbündeter mit Spaß an gewaltsamen Auseinandersetzungen auch schnell in die Herzen der Leser prügeln und metzeln – man stelle sich einen sprechenden Hodor aus „Game of Thrones“ mit ausgeprägtem Killerinstinkt vor und schon hat man Sigrud. Faszinierend ist aber auch, dass die Grenzen zwischen Gut und Böse in „City of Stairs“ immer wieder verschwimmen, was auch in dem historischen Rollentausch der Gegenparteien begründet liegt. Beispiel: Als Saypuri zählt Shara selbst formell zu den Unterdrückern Bulikovs und ist damit auch Teil des skrupellosen Zensur-Apparates, andererseits ist es aber auch ihr Volk, das jahrhundertelang vom Kontinent zu Sklaven gemacht wurde. Auch diese differenzierte Charakterzeichnung macht Bennetts Werk zu einem äußerst lesenswerten Roman, selbst wenn „City of Stairs“ mit seiner „nur“ 450 Seiten umfassenden Geschichte insgesamt vielleicht nicht mit der Komplexität epischer Fantasy-Reihen mithalten kann. Wer aber einen spannenden Krimi mit Fantasy-Hintergrund und einem atmosphärischen Setting sucht, könnte hier fündig werden.
Cover: | |
Charaktere: | |
Story: | |
Atmosphäre: |
8/10