Tags: Deutschland, Frankreich, Kindheit, Nationalsozialismus, Physik, Radiotechnik, Saint-Malo, Widerstand, Zweiter Weltkrieg
Genre: Historischer Roman
Marie-Laure LeBlanc lebt mit ihrem Vater in Paris, wo dieser als Schlosser beim staatlichen französischen Naturkundemuseum arbeitet. Obwohl das Mädchen im Alter von 6 Jahren erblindet, führt sie ein weitestgehend unbeschwertes und behütetes Leben: Ihr Vater kümmert sich rührend um sie und verzaubert sie immer wieder mit kleinen Basteleien und Rätseln, deren Höhepunkt ein ungemein detailliertes Modell von Paris ist, mit dem sich Marie-Laure auch ohne Sehkraft in den Straßen der Stadt zurechtfinden soll – auch wenn sie einige Stunden voller Unsicherheit und Hilflosigkeit überstehen muss, bis sie auf diese Weise alleine ihren Weg durch die französische Hauptstadt findet. Nach und nach lernt das Mädchen so, mit seinem Handicap umzugehen und wird von ihrem Vater auch in die Geheimnisse des Museums eingeweiht, das mit seinen Schätzen und Geschichten eine große Faszination auf Marie-Laure ausübt. Mit 12 Jahren nimmt ihr Leben dann aber eine dramatische Wendung: Der Zweite Weltkrieg erreicht Paris und zwingt die LeBlancs zur Flucht und somit zu einer Reise ins Ungewisse…
Zwei Kinder unter dem Einfluss des Zweiten Weltkrieges
Die Geschichte der jungen Marie-Laure LeBlanc ist aber nur eine von vielen, die Anthony Doerr in seinem historischen Roman „All the Light We Cannot See“ erzählt. Ebenso im Fokus des Buches steht der deutsche Waisenjunge Werner Hausner, der im vom Bergbau geprägten Ruhrgebiet aufwächst und schon früh eine Faszination für Radios und Funktechnik entwickelt. Gemeinsam mit seiner kleinen Schwester Jutta lauscht er so abends französischen Reportagen für Kinder, die seine Begeisterung für die Gesetze der Phsyik noch weiter anfeuern. Doch auch Werners Leben bleibt vom einsetzenden Krieg nicht unberührt: Seine besondere technische Begabung wird von den Nationalsozialisten entdeckt und so wird auch er langsam und ohne sich dessen groß bewusst zu sein ein Teil des schrecklichen deutschen Wehrmachtsapparates. Die Kindheit von Marie-Laure auf französischer und Werner auf deutscher Seite während der Kriegsjahre bildet das Grundgerüst von Doerrs Erzählung und wird auf zwei Zeitebenen geschildert: Die eine setzt vor Kriegsbeginn an und beschreibt den Weg aus einer unschuldigen Kindheit hin zu den ersten Wahrnehmungen des Zweiten Weltkrieges, die zweite Ebene beginnt im August 1944 in der französischen Küstenstadt Saint-Malo, wo die zunächst getrennt verlaufenden Handlungsstränge die beiden Kinder bereits in die gleiche und von Deutschen besetzte Stadt geführt haben, wo sie unabhändig voneinander die letzten Kriegstage unter dem Beschuss der Alliierten erleben.
Eine Geschichte voller kleiner Details und mit eindringlicher Atmosphäre
Das klingt vermutlich komplizierter als es ist, denn Anthony Doerr nimmt sich bei der Ausarbeitung seiner Story wirklich sehr viel Zeit, sodass sich die Handlung in aller Ruhe entfalten kann. Und die Zeit braucht es auch, denn Doerr bringt in „All the Light We Cannot See“ ungemein viele kleine Geschichten unter, die sich aber alle sehr harmonisch in den Gesamtrahmen einfügen. Da geht es zum Beispiel um Radiotechnik, Physik, kunsthistorische Schätze, einen von Legenden umgebenen Edelstein oder den Zauber der Werke Jules Vernes, die alle geschickt und fast schon unauffällig in das Hauptwerk um Marie-Laures und Werners Aufwachsen während des Krieges verwoben werden. Neben diesen vielen Details besticht der Roman aber auch mit einer sehr intensiven Atmosphäre, die trotz Kriegs-Szenario nicht nur bedrückend oder düster ist. Gerade die wunderschöne von Mauer eingefasste und vom Meer umgebene Altstadt Saint-Malos wird von Doerr so lebendig beschrieben, das man sich beim Lesen so fühlt als würde man sich selbst an der Seite der blinden Marie-Laure durch die Straßen tasten und die Geräusche und Gerüche der Stadt auf sich eindringen lassen.
Sprachlich und erzählerisch beeindruckender historischer Roman
Natürlich kommt man aber auch um die Tragik des Krieges in diesem Buch nicht drumherum und so ergeben sich fast zwangsläufig einige traurige, erschreckende oder wehmütige Momente. Dieser werden von Doerr aber sehr behutsam geschildert, sodass man bei diesem Buch nicht unbedingt Gefahr laufen muss, im Minutentakt die Taschentücher vollzuweinen. Der Autor durchläuft solche Szenen nämlich eher nüchtern aber keinesfalls emotionslos, was auch eine Qualität von „All the Light We Cannot See“ ausmacht. Sein Meisterstück liefert Doerr jedoch am Schluss ab, wo er seine vielen kleinen Geschichten zu einem sehr bewegenden Gesamtbild zusammenführt, das in einem fast 30-seitigen Epilog seinen Höhepunkt und zugleich einen perfekten Abschluss findet. Insgesamt hat der Amerikaner hier also ein wirklich beeindruckendes Werk hingelegt, das trotz der schwierigen Thematik nicht künstlich auf die Tränendrüse drückt, sondern vielmehr mit sprachlicher Schönheit und toller Erzählkunst besticht – auch wenn man manchmal ein wenig Geduld aufbringen muss.
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Charaktere: | |
Story: | |
Atmosphäre: |
9/10