Klammroth_Rezi

Die kleine Stadt Klammroth war einst ein idyllischer Ort, malerisch am Rhein gelegen und umgeben von zahlreichen Weinbergen, die den Ort auch für Touristen interessant machten – bis ein Ereignis die Stadt für immer verändern sollte. In dem Tunnel, der unter einem der Berge hindurchführt, kam es zu einem tragischen Unglück, als dort vier Schulbusse in einen Unfall verwickelt wurden und völlig ausbrannten. Nur die Hälfte der Schüler und Lehrer konnte sich lebend aus dem Berg retten, fast 90 Menschen kamen jedoch in dem Feuer auf schreckliche Weise ums Leben. Auch Anais Schwarz war damals unter den Opfern, kam aber wie durch ein Wunder mit vergleichsweise leichten Verletzungen aus der Flammenhölle davon und ließ Klammroth wenig später hinter sich, um in Hamburg eine Karriere als Schriftstellerin zu starten. 17 Jahre nach der Tragödie kehrt Anais in ihre Heimat zurück, um nach dem rätselhaften Tod ihrer Stiefmutter die Pflege ihres dementen Vaters zu regeln – und wird erneut schmerzhaft mit ihrer traumatischen Vergangenheit konfrontiert…

Eine Kleinstadt und ihre schreckliche Vergangenheit

Isa Grimm braucht gerade einmal vier Prolog-Seiten, um dem Schrecken ihres Romans „Klammroth“ ein Gesicht zu geben: Es ist ein alter, nur knapp 200 Meter langer Tunnel in einem Berg, der das Leben einer gesamten Stadt von einem Moment auf den anderen völlig verändert. Ein Schulausflug wird zur Tragödie, ein verheerender Brand schließt unzählige Kinder und Lehrer in der dunklen Röhre ein und aus dem Tunnel wird plötzlich ein gefräßiges Monster, das 89 Menschenleben verschlingt und hunderte weitere zerstört. Aus dem vormals idyllischen Ort wird eine Geisterstadt, deren unheimliche Atmosphäre sich von Anais‘ ersten Schritten in Klammroth sofort auf die Leser überträgt. Es gibt niemanden im Ort, dessen Leben nicht durch den schrecklichen Unfall beeinflusst wurde und in den Straßen trifft man überall auf Menschen, die durch entsetzliche Brandnarben für immer von der Katastrophe gezeichnet sind. Wer Isa Grimms zwar sehr bildhaften, aber erschreckend anschaulichen Beschreibungen Klammroths folgt, erkennt schnell, warum die Protagonisten Anais Schwarz der Stadt in jungen Jahren den Rücken gekehrt hat und nur widerwillig an den Ort des Schreckens zurückgekehrt ist.

Leises, aber durch die unglaublich intensive Atmosphäre sehr wirkungsvolles Grauen

Anais‘ Stiefmutter Theodora ist tot, gestorben bei einem weiteren Brand im Haus ihres Vaters, der seit Jahren apathisch in einem Pflegeheim vor sich hinsiecht. Die Ursache des Feuers ist rätselhaft, genauso wie die Tatsache, warum sich die Stiefmutter nach der bereits Jahre zurückliegenden Trennung von Anais‘ Vater überhaupt alleine in dem Haus aufgehalten hat. Da sich Theodora mit ihrer erfolgreichen Schmerzklinik und den dort praktizierten Methoden nicht nur Freunde gemacht hat, ist ein Verbrechen letztlich nicht auszuschließen. Was potenziell wie ein Krimi beginnt, entwickelt sich aber bald in eine ganz andere Richtung. Nach einem eher ruhigen, aber atmosphärisch sehr intensiven Anfangsdrittel häufen sich nach und nach mysteriöse Zwischenfälle, die Anais die Konfrontation mit ihrer Vergangenheit zusätzlich erschweren. Das Grauen kommt hier mit leisen Schritten, ist aber deshalb nicht weniger wirkungsvoll. Mit einfachen Mitteln sorgt Isa Grimm immer wieder dafür, dass man beim Lesen eine leichte Gänsehaut bekommt und sich mehr und mehr vom Sog der Handlung mitreißen lässt.

Unheimlich, überraschend und sehr beklemmend

Allerdings sollte man nicht damit rechnen, es bei „Klammroth“ mit einer realistischen Geschichte zu tun zu bekommen – auch wenn es lange Zeit den Anschein hat. Gerade in der zweiten Hälfte schlägt jedoch immer mehr die Faszination der Autorin für Gespenstergeschichten durch, was für den Leser die Konsequenz hat, dass Isa Grimm nicht für alle Ereignisse eine rationale Erklärung parat hat. Das mag nicht jedem gefallen, wenn man sich aber darauf einlassen kann, wird man mit einem rasanten und albtraumhaften Schlussdrittel belohnt, das einem nicht nur die Haare zu Berge stehen lässt, sondern zudem mit so mancher unvorhergesehenen Wendung schocken kann. In dieser Phase wird aus dem anfangs eher gemächlichen Drama fast schon ein Horror-Thriller, der zu großen Teilen von der unglaublich dichten Atmosphäre lebt. Gerade der zu einer weiteren Hauptfigur hochstilisierte Tunnel des Grauens sorgt durch die alles verschlingende Finsternis, den immer noch verströmenden Geruch des Unfalls und den überall im Ort präsenten Schmerz der Menschen für ein sehr beklemmendes Gefühl, das Grimm mit ihrer bildhaften Sprache sehr eindrucksvoll auf den Leser transportiert. Selten waren die Folgen einer solchen Tragödie so intensiv spürbar wie hier. Die Faszination dieses Buches mag vielleicht nicht auf jeden überspringen, bei mir hat die Autorin mit ihrem Stil und ihrer Story voll ins Schwarze gestroffen. Wer sich an manchen erzählerischen Freiheiten nicht zu sehr stört, bekommt mit „Klammroth“ vielleicht die beste Gespenstergeschichte seit Yrsa Sigurdardottirs „Geisterfjord“ – und wird schwarze Mülltüten in nächster Zeit bestimmt mit ganz anderen Augen sehen…

Klammroth
  • Autor:
  • Umfang: 335 Seiten
  • Verlag: Bastei Lübbe
  • Erscheinungsdatum: 13. März 2014
  • Preis Taschenbuch 14,99 €/eBook 11,99 €
Cover:
Charaktere:
Story:
Atmosphäre:
Gesamt:
9/10
Fazit:
Eigenwilliges, aber sehr packendes Mystery-Drama, das mit einer spannenden Geschichte und unglaublich beklemmender Atmosphäre für Gänsehaut sorgt.

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6 Antworten zu diesem Beitrag

  • Hallo!
    Also wenn du das Buch mit ‚Geisterfjord‘ vergleichst MUSS ich es lesen ::D
    Tolle Rezi, wie immer , da kommt mir beim Lesen schon das Grauen!
    Liebe Grüße, Janice

    • Da bin ich jetzt schon mal auf deine Meinung zum Buch gespannt. Ich glaube das ist nämlich schon ein wenig gewöhnungsbedürftig und wird nicht jedem gefallen, mich hat das aber total angesprochen.

      Erwarte aber jetzt kein zweites „Geisterfjord“, denn der unterschwellige Horror kommt eigentlich erst im Schlussdrittel. Aber ich finde atmosphärisch kann man das ganz gut vergleichen…

      Aber ich glaube schon dass dir das gefallen könnte 😉

  • Hallo Sebastian!
    Wow! Die beste Gespenstergeschichte nach „Geisterfjord“ ist Klammroth? Dann muss ich das lesen! Sofort! Und 9 von 10 Punkten, sowie Signalwörter wie „schocken, dichte Atmosphäre, beklemmend, intensiv, …“ – ja, du hast mich neugierig auf das Buch gemacht!
    Vielen Dank für die Rezension! Ein schönes Lesewochenende dir! Liebe Grüße, Iris

    • Mit „Geisterfjord“-Vergleichen kann man die Leute anscheinend echt ködern 😀

      Ich hoffe nur ich habe die Erwartungen nicht zu hoch geschraubt und du bist nachher nicht enttäuscht von dem Buch 😉

  • …und bestellt 😀