Tags: Einsamkeit, Gewalt, John Ajvide Lindqvist, Jugendliche, Mädchen, Musik, Schlager, Schweden, Theres, Wölfe, Wolfskinder
Genre: Drama, Fantasy, Horror, Mystery
Autor: John Ajvide Lindqvist
Sprecher: Michael Hansonis
Länge: 18 Std. 32 Min. (ungekürzt)
Anbieter: Audible GmbH
Originaltitel: Lilla stjärna
Preis: 24,95 € (9,95 € im Flexi-Abo von Audible.de)
Inhaltsbeschreibung von audible.de:
Dieser Säugling schreit anders als andere Kinder. Er schreit in reinen Tönen. Ausgesetzt im Wald wird er von einem abgehalfterten Schlagersänger gefunden. Er hört die betörende Stimme und nimmt das Kind mit nach Hause. Das Mädchen scheint wie besessen von Musik – in anderer Hinsicht ist es jedoch zum Fürchten. Zur gleichen Zeit wächst anderswo in Schweden ein zweites Mädchen auf. Teresa lebt in einer heilen Welt, unauffällig und von ihren Eltern geliebt. Und dennoch spürt sie, dass sie anders ist – ein einsamer Wolf. Es dauert vierzehn Jahre, bis die beiden Mädchen sich kennenlernen. Gemeinsam machen sie Musik und landen einen Hit. Unter ihren Fans finden sich weitere einsame Wölfe. Schon bald zieht das Rudel los, um sich an den Erwachsenen zu rächen..
Meine Hörbuchbesprechung:
Lennart und Laila Cedarström standen einmal kurz vor dem Sprung in eine erfolgreiche Schlagerkarriere, doch mit ihrem einzigen Hit reichte es letztlich nicht für mehr als einen kurzen Auftritt in der schwedischen Hitparade. Statt dem schillernden Showbusiness besteht das Leben des Paares mittlerweile nur noch aus einer armseligen Ehe, zu deren Scheitern beide Partner kräftig beigetragen haben. So leben Lennart und Laila eigentlich abgesehen von regelmäßigen handfesten Streitigkeiten nur noch aneinander vorbei, bis Lennart beim Pilzesammeln eine außergewöhnliche Entdeckung macht.
Findelkind wird isoliert in einem Keller großgezogen – mit schwerwiegenden Folgen
Im Wald entdeckt er halb vergraben in der Erde einen leblosen Säugling, der dort von Unbekannten abgelegt wurde. Als Lennart sich den Körper näher anschauen will, merkt er, dass das kleine Mädchen immer noch am Leben ist – und sich dem folgenden Schrei nach zu urteilen bester Gesundheit erfreut. Allerdings verstören ihn die Laute des Babys auch ein wenig, denn derart reine Töne hat Lennart noch nie gehört. Der gescheiterte Schlagersänger ist fasziniert von dem Geschöpf und sieht die Chance gekommen, mit Hilfe des Kindes einen neuen Anlauf zu einer erfolgreichen Karriere im Musikgeschäft zu nehmen, also nimmt er das Mädchen mit zu sich nach Hause. Um außer seiner Frau jedoch keinen anderen auf das besondere Geschöpf aufmerksam zu machen, verheimlicht er dessen Existenz vor der Außenwelt und zieht das Kind in dem Keller des gemeinsamen Hauses auf – ohne zu ahnen, welche Folgen das eines Tages haben wird…
Keine typische Horrorgeschichte
Man merkt beim Einstieg in die Geschichte recht früh, dass man es bei John Ajvide Lindqvists „Wolfskinder“ mit keinem gewöhnlichen Buch zu tun hat – dafür ist der schwedische Autor aber auch nicht bekannt. Seinen ersten großen Erfolg feierte der Schriftsteller 2004 mit dem Roman „So finster die Nacht“, der vier Jahre später sogar verfilmt wurde. Am ehesten lassen sich die Werke Lindqvists dem Genre der Horrorliteratur zuordnen, wenngleich diese Einschätzung zumindest für „Wolfskinder“ nur bedingt zutrifft. Wer nämlich gruselige Kreaturen oder blutige Splattergeschichten erwartet, der liegt bei diesem Titel kräftig daneben. Bei Lindqvist ist der Horror viel subtiler, und äußert sich in der ersten Hälfte des Buches vor allem in Form der Charaktere, die von der Rolle eines klassischen Helden kaum weiter entfernt sein könnten.
Drei unsympathische Anti-Helden als Ausgangssituation
Zunächst dreht sich alles erst einmal um Lennart und Laila Cedarström. In Rückblenden gibt der Autor seinen Lesern einen kleinen Einblick in deren bewegte Vergangenheit, deren Höhepunkt ohne Frage das kurze Hereinschnuppern ins Showgeschäft war. Das Ehepaar hatte sich als Schlagerpärchen mit einer soliden Komposition große Hoffnungen auf den nationalen Durchbruch als Musiker gemacht, die jedoch gleich nach dem Aufkeimen schon wieder einen herben Dämpfer bekamen. Den begehrten Platz an der Chartspitze bekam ihr Dauerrivale – und der Abstieg der Cedarströms begann. Laila begann mit dem Konkurrenten eine Affäre, die sie vor ihrem Mann aber nicht lange geheim halten konnte. Als Folge des Fremdgehens und ihres aufreizenden Verhaltens prügelte Lennart seine Frau zum Krüppel, damit Laila für andere Männer nicht mehr interessant ist – mit Erfolg. Auf den Leser hat diese Geschichte eine verstörende Wirkung: Eine untreue und karrieregeile Schlagersängerin und ein Mann, der seine Frau ohne Reue die Knie zertrümmert – Sympathie darf John Ajvide Lindqvist für seine Figuren nicht erwarten. Auch der Dritte im Bunde, Lennarts und Lailas erwachsener Sohn Jerry, kann als ungezogener Nichtsnutz, der seine Eltern nur aufsucht um an Geld zu gelangen, kaum für erwärmende Gefühle sorgen.
Zwei unglückliche Außenseiterinnen im Fokus der Geschichte
Dieses Szenario ist eines, das man auf gar keinem Fall einem kleinen Kind zumuten möchte – doch genau dies tut Lindqvist nach der kurzen Einführung. Im Wald findet Lennart ein ausgesetztes Baby und nimmt dies aus egoistischen Gründen, nämlich seinen wieder aufkommenden musikalischen Ambitionen, in seine Obhut auf – falls man das dunkle Kellerverlies überhaupt so nennen kann. Aus Angst, andere Menschen könnten dem Mädchen seine Besonderheit nehmen, hält er das Kind vor der Öffentlichkeit versteckt und nicht mal Laila darf mit ihm reden. Wenig überraschend ist dies für die Entwicklung des Kindes wenig förderlich: Es bleibt geistig weit hinter seinen Altersgenossen zurück, zeigt keinerlei Emotionen und legt kein eigenes Denken an den Tag, sondern folgt wie eine Maschine den Befehlen ihrer Zieheltern. So ziehen die Jahre ins Land, bis es schließlich zu einem Zwischenfall kommt, der das Leben des Mädchens einschneidend verändert. Nun kommt Jerry ins Spiel, der seiner Stiefschwester den Namen Theres gibt und die Heranwachsende langsam an die Außenwelt heranführt.
Der Autor hat bei der ausführlichen Einleitung keine Eile und nimmt sich alle Zeit der Welt, um die bedauernswerte Kindheit von Theres zu beschreiben. Dieses erste Drittel ist ehrlich gesagt wenig spektakulär und wird schnell langweilig, wenn man nicht bereit ist, sich der Geschichte zu öffnen. Wer sich aber ein wenig in die Story hineinarbeitet und dem Autor eine Chance gibt, der kann sich einer gewissen Faszination nur schwer entziehen. Einerseits ist das, was Lindqvist hier aufzeichnet, nur schwer zu ertragen und wirkt durchgehend verstörend und abstoßend, zudem fehlt es dem Buch in dieser Phase gänzlich an Sympathieträgern. Lennart, Laila und Jerry eignen sich dafür wie oben erwähnt ohnehin nicht, doch auch ihr Opfer, die vermeintlich unschuldige Theres, macht dem Leser eher ein wenig Angst, statt für eine Identifikation mit ihr zu sorgen. Das mag auch daran liegen, dass man nichts über ihre Gefühle und Gedanken erfährt, denn über Theres wird immer nur durch Außenstehende berichtet, jedoch nie aus ihrer eigenen Perspektive. Ein weiterer Grund für die Distanz zu dieser Figur ist aber auch die emotionale Kälte, die das Mädchen ausstrahlt. Durch ihr isoliertes Aufwachsen in einem dunklen Kellerraum fehlt es ihr komplett an sozialen Fähigkeiten, zudem erschreckt Theres die Hörer immer wieder durch plötzliche Erruptionen von ungebremster Gewalt.
Irgendwann ab der Mitte führt John Ajvide Lindqvist dann seine zweite Hauptfigur ein: Teresa, die ungefähr genauso alt ist wie Theres und die mehr oder wenig zufällig den Weg des zweiten Mädchens kreuzt. Teresa fühlt sich sofort zu ihrer Altersgenossin hingezogen und sieht in ihr eine Chance, aus ihrem einsamen und unglücklichen Leben auszubrechen – mit schwerwiegenden Folgen für sich selbst und das Umfeld der beiden Teenager.
Merkwürdiger und verstörender Genre-Mix
Es ist eine merkwürdige Geschichte, die der Autor seinem Publikum erzählt, und es fällt über die gesamte Länge des Buches nicht leicht, sein Anliegen herauszufiltern und zu verstehen. „Wolfskinder“ ist eine bizarre Mischung aus Drama, Horror, Fantasy, Mystery und Liebesgeschichte – eine Mischung, die zwar irgendwie die Neugier des Hörers weckt, aber nicht immer gut funktioniert, zumal die Story gelegentlich eher befremdliche Richtungen (z.B. in eine schwedische Castingshow) einschlägt. Obwohl Lindqvist einen außergewöhnlich guten Erzählstil besitzt, ist das Erzählte über weite Strecken einfach wenig mitreißend, sondern kettet den Hörer nur durch die verstörende Wirkung des Buches an sich. Mir ging es beim Hören so, dass ich die ganze Zeit über auf die große Erleuchtung bzw. den großen Knalleffekt gewartet habe, doch mit zunehmender Spieldauer wurde aus der anfänglichen Faszination immer mehr ein Gefühl der Ablehnung. Man quält sich dann durch die letzten Stunden und sehnt sich nach einem Abschluss, der dann auch noch ziemlich enttäuschend ausfällt. Es wirkt fast ein wenig so, als hätte der Autor zum Ende hin keine Lust mehr gehabt oder aber nicht gewusst, wie er einen geeigneten Ausstieg aus seiner Geschichte finden soll.
Der Sprecher:
Einen ähnlich gemischten Eindruck wie die Handlung hinterlässt auch Sprecher Michael Hansonis. Dieser hat eine eher gewöhnungsbedürftige Stimme und verfügt auch nicht über die Wandlungsfähigkeit eines David Nathan oder die mitreißende Wirkung eines Dietmar Wunder, trotzdem ist Hansonis‘ Leistungs keinesfalls schlecht. Genau genommen passt dessen immer etwas nörgelnd klingende Stimme recht gut zu dieser merkwürdigen und verstörenden Geschichte. Besonders die zurückgebliebene Theres bekommt in den seltenen Momenten, in denen sie einmal selbst ihre Stimme erhebt, durch Hansonis vermutlich genau die Apathie verliehen, die diese Figur auszeichnet.
Schlussfazit:
Bei Erscheinen der Hörbuchversion zu John Ajvide Lindqvists „Wolfskinder“ hat der Hörbuchanbieter Audible.de kurz zuvor eine einstündige kostenlose Hörprobe veröffentlicht, die wohl selten sinnvoller war als bei diesem Buch. Man kann bereits recht schnell herausfinden, ob die merkwürdige und bizarre Geschichte des Schwedens den persönlichen Geschmack trifft. Wer von den ersten 60 Minuten nicht gepackt wird oder zumindest eine gewisse Faszination für den Stoff aufbringen kann, der kann den Titel eigentlich direkt wieder von seinem MP3-Player schmeißen – es wird nicht „besser“. Die Story bleibt über die gesamte Länge so verstörend wie der Beginn, und wer sich davon schon nicht angesprochen fühlt, für den wird der Rest definitiv zur Qual.
Sehr spezielles, unbequemes und gewöhnungsbedürftiges Horror-Drama
Lindqvist macht es seinem Publikum nicht leicht: Es gibt keine Sympathieträger, kaum Action und eine deprimierende Grundstimmung, die auf Dauer nur schwer zu ertragen ist. Außerdem fällt es schwer, das Buch richtig einzuordnen, denn mit einem typischen Horrorroman hat „Wolfskinder“ rein gar nichts zu tun. Es geht vielmehr um seelische Abgründe und deren mögliche Folgen, die in diesem Fall von sehr extremer Natur sind. Ich habe bei meiner Wertung viel von dem Schluss abhängig gemacht, mit dem die Geschichte meiner Meinung nach steht und fällt. Leider konnte mich Lindqvists Ende überhaupt nicht überzeugen, sodass dadurch die vorangehenden Stunden rückblickend auch in einem schwächeren Licht dastehen. Dadurch wird „Wolfskinder“ nicht automatisch zu einem schlechten Buch, meinen Geschmack hat es aber letztlich nicht getroffen. Da auch Michael Hansonis als Sprecher für die wenigsten ein Kaufgrund sein wird, bleibt dem Titel wohl aufgrund der sehr speziellen Thematik eher ein Nischendasein vorbehalten.
Meine Wertung: 6/10
Informationen:
„Wolfskinder“ von John Ajvide Lindqvist hat eine Spieldauer von 18 Std. und 32 Min. und ist ungekürzt für 24,95 € bei audible.de erhältlich. Im Flexi-Abo kostet der Titel wie gewohnt nur 9,95 €. Weitere Informationen gibt es auf der Detail-Seite bei Audible.
Ja. Die einstündige Hörprobe hat bei mir genau die Eindrücke hinterlassen, die du beschreibst: seltsam, verstörend, unsympathische Hauptfiguren, die man intuitiv ablehnt. Deine Rezension ist sehr schön analytisch und legt zwei Dinge dar: 1. Die Geschichte hat einen gewissen Reiz durch ihre ‚Andersartigkeit‘ und 2. sie ist nur etwas für Nischen-Anhänger, die damit können.
Das bestätigt mich in meiner Entscheidung, dass Hörbuch zu umgehen. Auch wegen des Sprechers, mit dem ich ebenso wenig warm werden könnte wie mit der Geschichte.
Vielleicht was für Horrorfans? Die sind es ja eher gewöhnt, das Verstörende und Anti-Sympathische zu mögen (was keinesfalls als Kritik gemeint ist – Horor kann faszinieren!)
Hat mich übrigens gewundert, dass du dich trotz Hörprobe für dieses Hörbuch entschieden hast. Warum eigentlich?
Gruß,
papercuts1
Ich habe die Hörprobe gar nicht gehört, sondern das Hörbuch mehr oder weniger blind gekauft.
Diese 1-stündigen Gratis-Hörproben von Audible finde ich zwar gut, ich persönlich nutze sie aber überhaupt nicht, da ich diese Stunde lieber in den Abbau meiner Noch-zu-hören-Bibliothek investiere 😉
Hätte ich mir die erste Stunde von „Wolfskinder“ vorab angehört, hätte ich mir den Titel wohl auch eher nicht gekauft.
Gruß,
Sebastian