Tags: Der Hörverlag, Gerichtsprozess, Menschenwürde, Moral, Schuld, Terrorismus, Theaterstück, Urteil
Genre: Drama
Ist er ein Held, der rund 70.000 Menschen das Leben rettete, oder ein Massenmörder, der kaltblütig 164 Passagiere in den Tod geschickt hat – dies ist eine der zentralen Fragen, die es in „Terror“ von Ferdinand Schirach zu klären gilt. Im Mittelpunkt des ursprünglichen Theaterstücks, welches Der Hörverlag hier als rund anderthalbstündiges Hörspiel produziert hat, steht der Luftwaffen-Major Lars Koch. Dieser muss sich vor Gericht verantworten, weil er auf eigene Verantwortung ein von einem Terroristen gekapertes Passagierflugzeug abgeschossen hat, um einen verheerenden Anschlag auf die Münchener Allianz Arena zu verhindern, wo sich mehrere Zehntausend Menschen für eine Konzertveranstaltung versammelt hatten. Bei dem dramatischen Abschuss kamen alle Personen an Bord der Maschine ums Leben. Als Folge dessen sieht sich Major Koch nun mit einer Anklage wegen 164-fachen Mordes konfrontiert und es droht ihm eine lebenslange Freiheitsstrafe.
Heiligt der Zweck die Mittel?
Der ein oder andere wird vielleicht schon einmal vom sogenannten „Weichenstellerfall“ oder „Trolley-Problem“ gehört haben: dieses Gedankenexperiment beschäftigt sich vereinfacht ausgedrückt mit der Frage, ob es moralisch vertretbar ist, den Tod weniger Menschen in Kauf zu nehmen oder sogar zu verursachen, um eine noch größere Anzahl an Leben zu retten. Konkret sieht die Konstellation des Experiments wie folgt aus: ein Zug ist außer Kontrolle geraten und rast auf eine Gruppe von Menschen zu. Ein Weichensteller kann diese Gruppe vor dem sicheren Tod retten, indem er den Zug auf ein anderes Gleis umleitet, auf dem jedoch gerade ein Gleisarbeiter an den Schienen arbeitet. Sollte der Weichensteller diesen einen Menschen opfern, um die Gruppe auf dem anderen Gleis zu schützen? Er befindet sich hier unverschuldet in einem kaum zumutbaren Dilemma und verursacht ohne Ausweg in beiden möglichen Varianten den Tod von Menschen: entweder durch die aktive Entscheidung, den Zug umzuleiten, oder durch Passivität bzw. Unterlassen, wenn er den Zug seinen ursprünglichen Lauf nehmen lässt.
Skrupelloser Massenmörder oder mutiger Held?
In „Terror“ treibt Rechtsanwalt und Bestsellerautor Ferdinand von Schirach diese Situation auf die Spitze und lässt seinen Protagonisten über eine noch viel größere Anzahl Menschenleben richten. Dabei hat der Luftwaffen-Major objektiv betrachtet womöglich die richtige Entscheidung getroffen und sich für den Tod von 164 statt 70.000 Menschen entschieden. Doch zumindest juristisch betrachtet gestaltet sich die Lage völlig anders, denn Lars Koch hatte in diesem Fall überhaupt keine Befehlsgewalt und sich eigenhändig den Anweisungen seines Offiziers widersetzt, der ihm den Schießbefehl wiederholt verweigert hatte. Auch in der Realität hat das deutsche Bundesverfassungsgericht einen derartigen Abschuss einer Passagiermaschine grundsätzlich untersagt. Somit ist in der Verhandlung gegen Major Koch faktisch betrachtet eigentlich von Beginn an alles klar: der Angeklagte hat die ihm vorgeworfene Tat begangen und ist zudem auch im vollen Umfang geständig. Es ist jedoch die Frage zu klären, ob hier womöglich ein übergesetzlicher entschuldigender Notstand vorliegt und Kochs Handeln zwar rechtswidrig ist, er aufgrund der unzumutbaren Entscheidungssituation jedoch nicht tatsächlich schuldhaft ist und somit freizusprechen sei.
Was wäre wenn…
Diese Fragestellung ist unheimlich interessant und wird im Laufe der Verhandlung anhand weiterer Gedankenspiele zusätzlich verkompliziert: War es überhaupt unabwendbar, dass die entführte Maschine ins volle Fußballstadion stürzen würde? Hätten die Passagiere den Terroristen möglicherweise noch rechtzeitig überwältigen können? Hätte man die Arena nicht noch früh genug evakuieren können, um überhaupt keine Menschenleben mehr zu gefährden? Der Angeklagte erweckt dabei vor Gericht einen sehr aufgeräumten, intelligenten und in vielen Momenten auch sympathischen Eindruck, sieht sich aber auch persönlich mit unangenehmen Theorien konfrontiert: Hätte er zum Beispiel genauso gehandelt, wenn seine eigene Familie an Bord des Flugzeugs gewesen wäre?
Eine unmögliche Entscheidung
Dieser Fall und das damit verbundene Gedankenexperiment ist derart komplex, dass es fast schon schade ist, dass Ferdinand von Schirach den Prozess recht einfach gehalten hat und es neben dem Richter, der Staatsanwältin, dem Angeklagten und seinem Verteidiger gerade einmal zwei weitere Personen gibt, die vor Gericht auftreten: der dem Luftwaffenmajor vorgesetzte Oberleutnant und die Witwe eines der Opfer als Nebenklägerin. Hier wäre es spannend gewesen, noch weitere Meinungen zum Fall zu hören und die Diskussion um die Schuld des Angeklagten noch zu vertiefen. Denn eines ist besonders faszinierend an diesem Prozess: rein objektiv haben alle Beteiligten mit ihren Aussagen auf gewisse Weise Recht und ihre Standpunkte sind komplett nachvollziehbar – es ist aber dennoch nahezu unmöglich, eine moralisch einwandfreie Entscheidung zu treffen.
Ein globales Gedankenexperiment
An dieser Stelle wird es dann noch einmal zusätzlich interessant, denn zum Ende des Hörspiels entscheiden die Hörer selbst über das Schicksal von Major Lars Koch: auf der Audio-CD befinden sich zwei verschiedene Urteilssprüche und je nach persönlichem Empfinden lässt sich dann zwischen Freispruch und Verurteilung wählen – oder man hört beide Fassungen und wägt die jeweiligen Urteilsbegründungen gegeneinander ab. Hinter dieser simplen Wahl steht übrigens sogar ein globales Gedankenexperiment, denn Ferdinand von Schirachs Theaterstück wurde weltweit in über 25 Ländern aufgeführt und überall durften die Zuschauer am Ende der Vorführung selbst über das Urteil abstimmen – im Übrigen mit einem verblüffenden Ergebnis: in 2472 „Verhandlungen“ wurde der Angeklagte 2281-mal freigesprochen – ein Abstimmungsergebnis von überwältigenden 92,3 % zugunsten des Luftwaffe-Piloten. Bei den Einzelvotings fiel das Resultat knapper aus, denn von ca. 540.000 zusehenden „Schöffen“ entschieden rund 63 Prozent auf Freispruch. Lediglich in Japan hätte Major Koch schlechte Karten gehabt und wäre in der Mehrzahl der Verhandlungen schuldig gesprochen worden.
Packendes Filmhörspiel, das zum Nachdenken anregt
Stimmlich ist dieses Hörspiel im Übrigen prominent mit bekannten deutschen Schauspielern besetzt: die Hauptrolle des Angeklagten übernimmt Florian David Fitz, den Vorsitz hat „Richter“ Burghart Klaußner, Martina Gedeck geht als Staatsanwältin ins verbale Duell mit Verteidiger Lars Eidinger und die Zeugen werden von Jördis Triebel und Rainer Bock verkörpert. Alle sechs Akteure spielen ihre Rollen nämlich auch im begleitenden Fernsehfilm „Terror – Ihr Urteil“, sodass diese Hörspiel-Produktion praktisch die Audioaufnahme dieses Schauspiels ist. Da ist es wenig verwunderlich, dass die Sprecher gekonnt für ein regelrechtes Kopfkino sorgen, lediglich die erläuternde Stimme des Erzählers wirkt im Vergleich dazu insgesamt etwas dröge und steif. Abgesehen davon ist „Terror“ ein packendes und äußerst anregendes Stück, dem man eigentlich nur vorwerfen kann, dass es ob der so komplexen Thematik mit 91 Minuten ein wenig zu kurz ist. Und am Ende bleibt die Frage: Schuldig oder nicht schuldig?
Charaktere: | |
Story: | |
Atmosphäre: | |
Sprecher: |
9/10