Harry_August_Rezi

Als Harry August am Neujahrstag 1919 unter erbärmlichen Bedingungen in einer Bahnhofstoilette geboren wird, deutet zunächst wenig darauf hin, dass ausgerechnet dieses aus einer Missbrauchsbeziehung zwischen einem Adligen und einem jungen Dienstmädchen entstandene Kind einmal etwas ganz Besonderes werden soll. So dauert es auch ein gesamtes Menschenleben, bis Harry die Außengewöhnlichkeit seiner Existenz realisiert: Nach seinem Tod wird Harry nämlich wiedergeboren und beginnt an exakt jenem 1. Januar 1919 sein zweites Leben, denn Harry gehört zu den Kalachakra, einer kleinen Gruppe besonderer Menschen, die ihr Leben nach jedem Tod immer wieder von vorne beginnen – allerdings kann sich Harry an alle Ereignisse aus jedem seiner Leben erinnern. Trotzdem weiß er nicht, warum gerade er zu dieser ungewöhnlichen Art der Unsterblichkeit auserwählt wurde und ob ihm deshalb vielleicht eine besondere Rolle in der Geschichte zukommen soll – bis ihm am Ende seines 11. Lebens ein kleines Mädchen vom drohenden Untergang der Welt berichtet und ausgerechnet Harry August das Schicksal der Menschheit zum Guten wenden soll…

Und täglich grüßt das Murmeltier – Extended Version

Wohl jeder kennt die Filmkomödie „Und täglich grüßt das Murmeltier“ aus dem Jahr 1993, in der Hollywoodstar Bill Murray in einer Zeitschleife festsitzt und denselben Tag immer und immer wieder durchleben muss. Ein ähnliches Schicksal scheint auch Harry August, dem Protagonisten von Claire Norths Roman „Die vielen Leben des Harry August“ vorbestimmt zu sein, nur dass dieser gleich sein ganzes Leben nach jedem Tod aufs Neue erlebt. Auf die Ursache dieses Phänomens wird dabei nicht näher eingegangen, allerdings ist Harry mit seiner „Unsterblichkeit“ nicht alleine, denn überall auf der Welt gibt es Menschen wie ihn, sogenannte Kalachakra oder Ouroboren, die alle in der Zeitschleife ihres Lebens gefangen sind. Was zunächst wie ein Gottesgeschenk erscheint, ist für die Betroffenen allerdings oft nur schwer zu ertragen, denn sie bekommen nicht nur mit jedem Tod eine neue Chance, sondern müssen auch jegliches ihnen widerfahrene Elend wieder und wieder erleben, sodass nicht wenige Kalachakra einige Leben brauchen, um sich mit ihrem Schicksal abzufinden. Zudem quält die meisten der Ouroboren auch die Suche nach dem Sinn ihrer Existenz und auch die Titelfigur Harry August ist hier keine Ausnahme.

Ein interessanter, aber nicht immer ganz stimmiger Zeitschleifen-Ansatz

So braucht auch dieser Harry August eine ganze Weile, um sich an sein Dasein als Zeitschleifen-Opfer zu gewöhnen und eine ganze Weile bedeutet in seinem Fall nun einmal: einige Leben. Claire North hat sich allerdings dafür entschieden, die Leben des Harry August nicht chronologisch zu erzählen, sondern springt immer wieder für kurze Anekdoten wild zwischen den einzelnen Zeitlinien hin und her, was gerade in der Hörbuchfassung ein wenig verwirrend werden kann, da man hier leicht den Überblick verliert. Zudem ist es auch nicht immer einfach, Norths Grundidee bezüglich der Wiedergeburten zu folgen, was zum einen natürlich an der Thematik selbst liegt, die fast zwangsläufig das ein oder andere (Zeit-)Paradoxon hervorbringt, allerdings hatte ich aber auch immer wieder das Gefühl, dass es sich die Autorin bei der Erklärung ihres Konzepts manchmal ein wenig zu leicht gemacht hat. So hat die Kalachakra-Idee bei mir mitunter immer wieder zu Kopfzerbrechen geführt und ich hatte oft den Eindruck, dass die Logik stellenweise ein wenig auf der Strecke blieb. Zum Beispiel ist Harry August unter anderem deshalb etwas Besonderes, weil er sein Leben immer und immer wieder aufs Neue erlebt und in diesem Sinne nicht sterben kann. Strenggenommen gilt dies aber eigentlich für JEDEN der im Buch erwähnten Charaktere, da diese immer wieder Harrys Wege kreuzen und ihre Leben zum Teil sogar anders verlaufen als die bisherigen – der Unterschied bei Harry ist augenscheinlich lediglich der, dass er sich im Gegenzug zu seinen „Normalo-Mitmenschen“ an alle seine Leben erinnern kann. Das ist ebenso wenig hundertprozentig stimmig wie die Tatsache, dass Harry immer wieder eingebläut wird, dass er auf gar keinen Fall einschneidende Veränderungen an der Geschichte vornehmen darf um nicht quasi „aus Versehen“ dadurch das Ende der Welt zu verursachen – allerdings nimmt dieser dennoch maßgeblich Einfluss auf Kriege und entscheidet teilweise über Leben und Tod, ohne dass dies weitreichende Folgen hätte. Chaostheoretiker dürften sich bei dieser recht willkürlichen Interpretation von Zeitparadoxien wohl die Haare raufen…

15 Leben mit erstaunlich wenig Handlung

Harry Augusts immer wieder (zumindest weitestgehend) aufgezwungene Passivität bringt aber auch ein weiteres Problem mit sich: es passiert im Verlauf der fünfzehn Leben (denn genau so viele umfasst die Handlung des Buches, wie auch der englische Originaltitel „The First Fifteen Lives of Harry August“ verrät) insgesamt herzlich wenig, sodass man sich zwischenzeitlich schon fragt, ob das ganze nicht auch in zwei oder drei Leben gepasst hätte bzw. was Harry mit seiner ganzen Zeit überhaupt anfängt. Es hat fast den Eindruck, als würde die Hauptfigur die Hälfte seiner Lebenszeit damit verbringen, darüber nachzudenken wer er eigentlich ist, was seine Rolle in der Geschichte ist und ob er überhaupt Einfluss auf diese nehmen darf. Das ist zwar aus philosophischer Sicht ganz interessant, auf Dauer jedoch ein wenig ermüdend. Zudem muss man sich vor Augen führen, dass die im Klappentext angedeutete Botschaft vom Ende der Welt Harry August erst am Ende seines 11. (!) Lebens erreicht – erst dann beginnt also die eigentliche Mission des Protagonisten, bis dahin befindet sich Harry mehr oder weniger auf einem hunderte von Jahren dauernden Selbstfindungstrip. Angesichts dessen ist es schon erstaunlich und auch ein wenig traurig, dass es Claire North nicht gelingt, ihrer Hauptfigur richtig Profil zu verleihen, denn leider bleibt Harry August nahezu über die gesamten ersten 15 Leben seiner Existenz erstaunlich blass.

Ein Zeitreise-Abenteuer, das viel Potenzial ungenutzt lässt

Insgesamt fällt mein Fazit über „Die vielen Leben des Harry August“ also trotz der spannenden Ausgangsidee eher ernüchternd aus, da Claire North viel Potenzial ungenutzt lässt und statt eines spannenden Zeitreise/Zeitschleifen-Abenteuers eine weitestgehend emotionsarme Geschichte erzählt, weil es dieser eben nun einmal auch an einer interessanten Hauptfigur mangelt, welche die Leser bzw. Hörer wirklich mitreißen könnte. Zudem nimmt sich die Autorin zwar viel Zeit für die Beschreibungen der jeweilen Epochen und historischen Stationen der Geschichte, bleibt bei den Erklärungen rund um das Zeitschleifen-Phänomen aber oft zu oberflächlich und kann dadurch logisch nicht immer überzeugen. So hat das große Highlight dieses Hörbuches für mich auch nicht direkt mit der Handlung an sich zu tun, sondern findet sich in der großartigen Lesung von Stefan Kaminski, dessen Stimmen-Morphing-Fähigkeiten von der Geschichte zwar eher selten gefordert werden, der aber dennoch einen Großteil zur Atmosphäre des Hörbuches beiträgt.

Die vielen Leben des Harry August
  • Autor:
  • Sprecher: Stefan Kaminski
  • Original Titel: The First Fifteen Lives of Harry August
  • Länge: 14 Std. 8 Min. (ungekürzt)
  • Verlag: Lübbe Audio
  • Erscheinungsdatum: 12. November 2015
  • Preis 29,95 € (9,95 € im Audible-Flexi-Abo)
Charaktere:
Story:
Atmosphäre:
Sprecher:
Gesamt:
6/10
Fazit:
Claire Norths Zeitschleifen-Roman „Die vielen Leben des Harry August“ fasziniert mit einer interessanten Ausgangsidee, kann mit der seltsam emotionslosen Geschichte und der trotz 15 geschilderter Lebensspannen immer noch blass bleibenden Hauptfigur das Potenzial des Settings jedoch nur selten ausschöpfen und verfängt sich darüber hinaus zu häufig in kleineren Widersprüchen und Logikschwächen.

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2 Antworten zu diesem Beitrag

  • Mir ging es leider auch so, dass ich eher Probleme mit dem Buch hatte. Den Anfang fand ich noch interessant, dann wurde es nach den ersten paar Kapiteln aber schon schnell langweilig. Ich hatte auch das Hörbuch mit Stefan Kaminski gehört. Und obwohl er zu meinen Lieblingssprechern gehört, habe ich das Hörbuch abgebrochen. Die ganzen Beschreibungen und die mangelnde Handlung war absolut nichts für mich. Schade um die Idee…

    Liebe Grüße
    Tina

    • Ich habe mich auch hauptsächlich wegen Stefan Kaminski für das Hörbuch entschieden und der Sprecher war dann auch der Hauptgrund dass ich es dann nicht komplett langweilig fand aber von der Story selbst war ich schon recht enttäuscht.

      Ich find’s auch schon ein wenig absurd dass erst 11 Leben vergehen müssen bevor das eintritt was im Klappentext angedeutet wird, da hätte man auch ruhig mal ein bisschen eher mit loslegen können 😀