Spätestens seit seine Mutter offenbar ihren Verstand verloren hat und aufgrund ihrer Probleme in eine psychiatrische Klinik eingeliefert wurde, hat Tarquin in seinem Leben mit ernsten Problemen zu kämpfen. Nicht nur dass seine Mutter ihn in einem ihrer Wahnanfälle beinahe getötet hätte und die Bindung zwischen den beiden dadurch endgültig zerstört wurde, auch in seinem Alltag schlägt sich Tark mehr schlecht als recht durch. Die problematische Familiensituation macht sich in einem leicht reizbaren Temperament des Jungen bemerkbar und viele in seinem Umfeld fühlen sich durch seine düstere Ausstrahlung und seine oft schroffe Art abgeschreckt, sodass Tark außer seinem Vater, seiner Cousine Callie und seiner Therapeutin keinerlei Bezugspersonen hat. Allerdings weiß niemand um die Ursache für seinen schwierigen Charakter, denn der Junge trägt seit Jahren ein düsteres Geheimnis mit sich herum – ein Geheimnis, das so schrecklich ist, dass es nicht nur für ihn selbst zu einer immer größeren Gefahr wird…
Ein Geistergeschichte erzählt aus der Sicht eines Geistes
Es ist nicht ganz einfach zu beschreiben, worum es in Rin Chupecos YA-Horrorroman „The Girl from the Well“ eigentlich geht, was auch an der eher ungewöhnlichen Herangehensweise an die Geschichte geht. Der eingangs erwähnte Teenager Tarquin ist nämlich nicht die Hauptfigur des Buches, auch wenn sich das Grundgerüst der Handlung schon um dessen Schicksal dreht. Die Erzählerrolle übernimmt aber jemand anderes, oder vielleicht sollte man besser ETWAS anderes schreiben, denn die eigentliche Protagonistin ist nicht menschlich – bzw. nicht mehr, denn sie hat schon vor Jahrhunderten ihr Leben gelassen und zieht seitdem als rastlose Seele durch die Zeiten. Nun dürfte es auch der letzte erraten haben: Die Erzählerin in „The Girl from the Well“ ist ein Geist, dessen Weg sich auch eher zufällig mit dem des merkwürdigen Jungen mit den verstörenden Tätowierungen und der labilen Mutter kreuzt. Eigentlich hat Okiku ganz anderes im Sinn, nämlich Rache für ermordete Kinder zu nehmen und deren Peiniger ihrer gerechten Strafe zuzuführen – bis sie eben auf Tark trifft und dieser ihrem Dasein eine ganz neue Bedeutung verschafft.
Distanzierte und dadurch leider emotionslose Erzählweise
Klingt ein bisschen nach drohender kitschiger Geister-Romanze, ist es aber nicht einmal ansatzweise. Überhaupt ist „The Girl from the Well“ leider ein wenig emotionsarm, was sowohl auf die Erzählerin als auch auf die Geschichte selbst zutrifft. Als untote Seele hat Okiku offenbar über die vielen Jahre hinweg ihre gesamte Empathie verloren und zieht vielmehr als neutrale Beobachterin durchs „Leben“. Das schlägt sich auch in ihrer Erzählweise nieder, denn für sie spielen Namen keine große Rolle. Tarquin wird so zum „tattooed boy“, Callie zur „young woman“ oder einer von Okikus Zielobjekten zu „The Smiling Man“. Originell, aber eben auch sehr distanziert, was die meiste Zeit über sehr unterkühlt wird und leider auch dafür sorgt, dass man wie Okiku selbst keine enge Bindung zu den Charakteren aufbauen kann und sich dadurch nicht mitten in der Geschichte, sondern vielmehr wie ein Beobachter an deren Rand versetzt fühlt. Zudem bringt die untote Erzählerin die ein oder andere Macke mit, die im besten Falle gewöhnungsbedürftig, im schlechtesten jedoch einfach nur nervig ist, allen voran ihr Tick, alle möglichen Dinge und Menschen ständig zählen zu müssen. Rin Chupeco ist hier sichtlich um eine einzigartige Erzählweise bemüht, leider wirkt diese aber oft einfach nur holprig und störend.
Eher düsteres Märchen statt gruseligem Geister-Horror
Ein der wichtigsten Punkte einer Horrorgeschichte ist meiner Meinung auch die Schaffung einer besonderen Atmosphäre, welche die Leser gefangen nimmt und mit in die Abgründe der Geschichte zieht. Weil aber in „The Girl from the Well“ alles ein wenig distanziert wirkt, will auch keine richtige Stimmung aufkommen. Zwar hat der Roman einige durchaus drastische Szenen zu bieten, richtig unheimlich sind diese jedoch zu keinem Zeitpunkt. Auch die hin und wieder eingestreuten japanischen Geistergeschichten können nur wenig Atmosphäre aufbauen, weil diese eben auch zu oberflächlich abgehandelt werden. Wer also zu dieser Lektüre gegriffen hat, um sich mal wieder richtig schön gruseln zu können, bekommt hier vielmehr eine Art düsteres Märchen geboten. Dass dieses als „YA Horror novel pitched as ‚Dexter‘ meets ‚The Grudge‘“ beworben wird, ist dann schon arg weit hergeholt, denn „The Girl from the Well“ ist nicht einmal ansatzweise so fesselnd und atmosphärisch wie die japanischen Horror-Klassiker und hat mit Jeff Lindsays Serienmörder einzig die Tatsache gemeinsam, dass sowohl Dexter als auch Okiku eine Art Racheengel sind – mit dem Unterschied, dass dies bei Rin Chupecos Roman aber kaum über eine Randnotiz hinauskommt.
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6/10