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Es sieht auf den ersten Blick fast ein wenig unscheinbar aus, doch in dem schlichten braun-schwarzen Schuber verbirgt sich das vielleicht außergewöhnlichste Buchprojekt, dem ich in meinem Leben bisher begegnet und auf das ich auch nur durch Zufall aufmerksam geworden bin. Beim Stöbern auf Amazon stolperte ich via „Kunden kauften ebenfalls“-Hinweis über ein Buch von J.J. Abrams, was mich alleine durch den Autor schon neugierig gemacht habe – schließlich konnte mich Abrams bisher mit fast all seinen Projekten (mit Ausnahme der letzten LOST-Staffeln…) total begeistern. Bei näheren Nachforschungen entdeckte ich dann einige Youtube-Videos, in denen das Buch näher vorgestellt wurde – und schon war es um mich geschehen, denn die Aufmachung und die vielen Extras haben dafür gesorgt, dass „S.“ umgehend in meinem virtuellen Warenkorb gelandet ist.

Ein außergewöhnliches Buchkonzept

Das Konzept ist dabei mehr als außergewöhnlich, denn man hat es hier praktisch mit einem Buch im Buch zu tun – es dreht sich bei „S.“ nämlich alles um „Ship of Theseus“, das 1949 erschienene Werk des fiktiven Autors V.M. Straka, das der Leser in seiner Originalform im Schuber vorfindet. „Ship of Theseus“ ist zugleich das letzte Werk Strakas, der das Buch vor seinem Tod nicht mehr beenden und die Veröffentlichung seines 19. Romans somit auch nicht mehr erleben konnte. Allerdings hatte es sich seine (ebenfalls fiktive!) langjährige Übersetzerin F.X. Caldeira zur Aufgabe gemacht, Strakas Werk zu beenden und mithilfe der ihr vorgelegten Manuskripte das unfertige letzte Kapitel zu vervollständigen. Wie aus Caldeiras Vorwort aber hervorgeht, weiß bis zum heutigen Tag niemand, wer sich überhaupt hinter dem Namen V.M. Straka verbirgt und es ranken sich unter den Anhängern des Autors zahlreiche Theorien, welche Person für dessen Werke in Wirklichkeit verantwortlich sein könnte. Zu diesen Hardcorefans zählt auch Eric (fiktiv!), ein an seiner Universität in Ungnade gefallener Doktorand, der sein ganzes Leben der Analyse von Strakas Werken gewidmet hat. Dieser lässt sein Exemplar versehentlich in der Uni-Bibliothek liegen, wo es die Studentin Jen (fiktiv!) findet, in das Buch hineinschnuppert und sofort davon fasziniert ist. Fortan entwickelt sich zwischen den beiden jungen Leuten ein lebhafter Austausch über „Ship of Theseus“ und dessen Autor, den die beiden anhand von Anmerkungen im Buch selbst austragen.

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Ein komplexes Leseerlebnis auf drei verschiedenen Ebenen

Klingt kompliziert? Ist es auch, denn man muss sich beim Lesen stets vor Augen halten, dass man es bei „S.“ mit drei verschiedenen Ebenen zu tun hat. Basis ist Strakas „Ship of Theseus“, der Roman selbst. Die zweite Ebene stellt die Übersetzerin dar, die in zahlreichen Fußnoten immer wieder auf Besonderheiten gewisser Textstellen, Eigenheiten des Autors oder Schwierigkeiten ihrer Arbeit hinweist. Die letzte Ebene sind schließlich Jen und Eric, die das Buch wie ein Notizbuch benutzen. Bevor man nun an die Lektüre von „S.“ geht, muss man sich zunächst einmal überlegen, wie man dieses Projekt überhaupt lesen möchte. Ich habe für mich entschieden, jeweils zuerst ein Kapitel des Straka-Textes inklusive Caldeiras Fußnoten zu lesen und dann in einem zweiten Durchgang Jens und Erics Notizen. Dies wird aber noch dadurch verkompliziert, dass deren Randbemerkungen zu verschiedenen Zeitpunkten vorgenommen wurden und oft nur durch die Farbe der Stifte auseinanderzuhalten sind – und es dauert eine ganze Weile, bis man ungefähr weiß, in welcher Reihenfolge welche Kommentare geschrieben wurden und wie man mit „S.“ umzugehen hat.

Unglaublich authentische und detailverliebte Aufmachung des Buches

Wenn man die „Arbeit“ – denn als solche muss man es eigentlich schon bezeichnen – beginnt, wird man sich vermutlich in einem seltsamen Zustand zwischen Verwirrung und Euphorie wiederfinden. Für die Begeisterung ist ganz klar die Aufmachung des Werkes verantwortlich, denn „S.“ ist wirklich unglaublich liebevoll gestaltet und beeindruckt durch unzählige Details. Das fängt damit an, dass das 1949 veröffentlichte „Ship of Theseus“ auch tatsächlich so aussieht, als würde es bereits seit 60 Jahren in der Uni-Bibliothek herumliegen. Der Einband ist klassisch aus Stoff, die Typografie wunderbar altmodisch und die Seiten sind völlig vergilbt und durch Kaffeeflecken und ähnliche Rückstände verunreinigt. Zudem haben die beiden Leser zahlreiche Gegenstände zwischen den Seiten hinterlassen, so z.B. Zeitungsausschnitte, Postkarten, beschriebene Servietten oder Briefe, deren Erkundung einfach wahnsinnigen Spaß macht. „S.“ ist mit knapp 24 Euro wirklich nicht gerade billig, aber allein die äußere Gestaltung ist das Geld absolut wert. Vom Poststempeln auf der Ansichtskarte über den Kaffeefleck im Brief bis zu den Büchereistempeln im Einband wirkt alles ungemein authentisch und man könnte bereits Stunden alleine damit verbringen, all die vielen kleinen Details zu entdecken. Bookporn deluxe…

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Sehr mysteriöser und verwirrender Inhalt

Die Verwirrung entsteht zum einen dadurch, dass man sich ziemlich mühsam seinen Weg durchs Buch finden muss, aber auch durch die Art von Strakas Werk selbst. Das von Doug Dorst (diesmal der reale Autor!) verfasste „Ship of Theseus“ liest sich wirklich wie ein alter Klassiker und hat mich nicht selten an Kafkas „Der Prozess“ erinnert – nicht nur weil der Name von Strakas Hauptfigur ebenfalls nur aus einem Buchstaben besteht: S. Dieser findet sich ohne Erinnerungen in einer fremden Stadt wieder, wird nur wenig später auf ein mysteriöses Schiff verschleppt und erlebt fortan ein sehr seltsames und surreales Abenteuer, das zudem ziemlich kryptisch erzählt wird. Dieses Mysteriöse ist in den ersten Kapiteln noch aufregend und spannend, allerdings tritt die Geschichte spätestens ab der Hälfte etwas auf der Stelle und zieht sich teilweise doch arg in die Länge. Erschwert wird das ganze dadurch, dass eigentlich niemand genau weiß, was Straka mit seinen rätselhaften Beschreibungen konkret ausdrücken wollte. An dieser Stelle kommen nun sowohl dessen Übersetzerin F.X. Caldeira, als auch Jen und Eric ins Spiel, die versuchen, Strakas Text zu entschlüsseln und die versteckten Hinweise (sofern es überhaupt solche sind) zu finden und zu deuten.

Sehr mühsame und häufig frustrierende Textarbeit

Die Problem für den Leser ist nun, dass die Analyseversuche oft kaum nachzuvollziehen sind, da sich sowohl Caldeira als auch die beiden jungen Straka-Fans bei ihren Recherchen zahlreicher externer Materialen bedienen – z.B. früherer Romane Strakas oder Lexikoneinträge (natürlich beides fiktiv!) –, die für den Leser aber nicht zugänglich sind. Anfangs ist das noch verschmerzbar, da auch Straka-Neuling Jen noch nicht so tief in die Thematik eingetaucht ist, doch wenn sie und Eric sich im späteren Verlauf ihre in wochenlangen Nachforschungen erarbeiteten Theorien über die Identität des Autors um die Ohren hauen, kommt man als Außenstehender kaum noch hinterher. Das ist sehr frustrierend, weil man bei der Lektüre selbst ungemein viel Aufwand investiert, dafür aber nur sehr wenige Informationsschnipsel als Gegenleistung erhält. Nur um mal die Komplexität von „S.“ zu verdeutlichen: Das Durcharbeiten eines 50-seitigen Kapitels dauert für den geübten Leser ungefähr zwei Stunden, wobei jeweils ca. die Hälfte für den Originaltext einerseits und die Anmerkungen und Extras andererseits draufgehen. Das ist ungemein fordernd und fühlt sich wirklich so an, als würde man wie früher in der Schule an der aufgezwängten Analyse eines schwer zugänglichen Klassikers verzweifeln. Wenn das Ergebnis dieser Arbeit dann nur immer noch neue Verwirrung ist, dann ist das auf Dauer schon sehr ernüchternd.

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Grandioses Konzept, problematische Umsetzung

Die Bewertung von „S.“ fällt mir daher sehr schwer. Einerseits ist das Konzept von J.J. Abrams einfach überragend und verdient locker die volle Punktzahl und das Preis-Leistungsverhältnis ist hier trotz des hohen Preises wirklich sehr gut: Man bekommt nicht nur optisch sehr viel für sein Geld, sondern kann sich auch wirklich viele Stunden mit diesem außergewöhnlichen Projekt beschäftigen – vor allem wenn man es auf die Spitze treiben will und ein wenig im Internet nach weiteren Interpretationsversuchen von „S.“-Fans sucht und sich dabei in weiteren unzähligen Details verliert, die einem selbst beim Lesen gar nicht aufgefallen sind. Auf der anderen Seite bin ich vom reinen Inhalt doch recht stark enttäuscht. Ich tue mich zwar allgemein mit eher drögen Klassikern sehr schwer und man muss „Ship of Theseus“-Autor Doug Dorst auch wirklich zugute halten, dass das Werk sehr authentisch wirkt und mit sehr viel Aufwand und Liebe zum Detail geschrieben wurde. Ich habe es allerdings zum Ende hin leider tatsächlich als sehr langweilig empfunden und war von der Auflösung (sowohl des Straka-Romans, als auch der Jen/Eric-Ebene) sehr enttäuscht, weil der Schluss meiner Meinung nach ungemein unbefriedigend ausfällt. Außerdem hätte ich mir insgesamt gewünscht, dass man als Leser noch viel mehr in die Suche nach Strakas wahrer Identität einbezogen und beim Erarbeiten des Textes mehr an die Hand genommen wird. So hat die Übersetzerin z.B. in den Fußnoten jedes Kapitels einen geheimen Code versteckt, den Jen und Eric zwar immer knacken, man als Leser den Weg zur Entschlüsselung meist aber überhaupt nicht nachvollziehen kann. Wer sich wie ich z.B. total auf die Benutzung der mitgelieferten Dechiffrierscheibe gefreut hat, wird von der fehlenden Interaktivität vermutlich dann ebenfalls ein wenig enttäuscht sein.

Trotz Frust empfehlenswert – unter gewissen Bedingungen

Trotzdem würde ich „S.“ jederzeit weiterempfehlen, einfach weil die Idee hinter diesem Projekt wahnsinning faszinierend, das Konzept unglaublich toll erdacht ist und ich trotz all meines Frustes immer noch mit seligem Blick durch die vergilbten Seiten blättere und mich an Flecken und schwer zu entziffernden Handschriften ergötze. Man sollte sich aber bewusst sein, dass man für diese Lektüre wirklich viel Arbeit investieren muss und dieser Aufwand leider nicht in jeder Hinsicht belohnt wird.

S.
  • Autor: ,
  • Umfang: 473 Seiten
  • Verlag: Mulholland Books
  • Erscheinungsdatum: 29. Oktober 2013
  • Preis Geb. Ausgabe 23,95 €/eBook 12,01 €
Cover:
Charaktere:
Story:
Atmosphäre:
Gesamt:
6/10
Fazit:
Grandioses Buchprojekt mit spektakulärem Konzept und unglaublich vielen Details, für dessen Lektüre man jedoch viel Arbeitseifer und Frustresistenz mitbringen sollte.

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7 Antworten zu diesem Beitrag

  • Ich kann mich an deine Begeisterung erinnern, als du das Buch auf YouTube entdeckt und bestellt hast. Das Konzept hört sich toll an und sieht auch toll aus. Für Buchmenschen ist so etwas ja ein echter Schatz. Aber schade, dass der Autor es wohl zu kafkaesk mochte und auch die Umsetzung in Bezug auf Lesbarkeit und Lösbarkeit nicht gelungen ist.
    So sehr mich Aufmachung und Idee auch reizen, ‚S.‘ mal in die Hand zu nehmen – wenn da letztlich eine langatmige, schlecht zu dechiffrierende Geschichte dahinter steckt, die mich am Ende außen vor lässt, ist es mir die Sache trotzdem nicht wert. Schade.

    LG,
    papercuts1

    • Ich bin auch eigentlich immer noch total begeistert wenn ich das Buch in der Hand habe aber ich fand es einfach super frustrierend dass man da beim Lesen so viel Arbeit investiert und dann dennoch ratlos zurückgelassen wird…

  • Da stimmen unsere Rezensionen ja wirklich ziemlich überein. Empfehlungen trotz dem Frust 😀

    Ich frage mich immer noch wieso die das nicht interaktiver gemacht haben. Das wäre ja kein sonderlich großer Aufwand gewesen, im Prinzip war ja alles da.
    Vielleicht klauen ja noch mehr Leute die Idee und machen was besseres draus XD