Für diese Ausgabe von „Kurzer Prozess“ müsst ihr euch warm anziehen, denn es geht hoch in den kühlen Norden: wir starten in Island mit dem zweiten Band von Yrsa Sigurðardóttirs neuer Thriller-Reihe um den Polizistin Huldar und die Kinderpsychologin Freyja, die es bei ihrem zweiten gemeinsamen Einsatz mit einer Todesdrohung aus einer zehn Jahre alten Zeitkapsel zu tun bekommen. Weiter geht es in Schweden, wo eine junge Staatsanwältin auf brutale Weise mit einem dunklen und längst verdrängten Kapitel ihrer Vergangenheit konfrontiert wird. Den Abschluss macht der langersehnte fünfte Band der längst legendären Millennium-Reihe, in der sich David Lagercrantz bereits zum zweiten Mal am Erbe von Stieg Larsson versucht – ob ihm das gelungen ist und Fans nordisch-düsterer Krimis und Thriller bei diesen drei Büchern auf ihre Kosten kommen, erfahrt ihr in den nachfolgenden drei Kurzrezensionen.

SOG von Yrsa Sigurðardóttir

Es gibt sicherlich erfolgreichere Karrieren als die der beiden Hauptfiguren Huldar und Freyja in Yrsa Sigurðardóttirs Roman „Sog“, dem Nachfolgeband des 2016 in Deutschland erschienenen Reihenauftakts „DNA“. Kommissar Huldar hat sich bei seinem letzten Fall nicht gerade mit Ruhm bekleckert und hat die gerade erst erlangte Führungsposition in seiner Abteilung dadurch bereits wieder abtreten müssen und auch die Kinderpsychologin Freyja wurde durch ihre Verwicklung in die Ermittlungen beruflich zurückgestuft. Das nach einer unglücklich verlaufenen Affäre ohnehin angespannte Verhältnis der beiden ist durch diese Rückschläge nicht gerade besser geworden, doch das ist für Huldar noch längst kein Grund, die Hoffnung auf eine richtige Beziehung mit Freyja aufzugeben – und so wählt er sie auch in seinem neuen Fall wieder nicht ganz uneigennützig zu seiner Partnerin: eine Schule in Reykjavik hat nach 10 Jahren eine Zeitkapsel ausgegraben, in der die damaligen Schüler in Briefen ihre Vorstellungen vom Jahr 2016 aufschreiben sollten. Als eine der Botschaften aber eine Mordserie ankündigt und sogar die Initialen der vermeintlichen Opfer auflistet, will Huldar gemeinsam mit Freyja herausfinden, ob die brutalen Fantasien des Kindes tatsächlich ernst gemeint waren und heute in Island ein potenzieller Serienmörder herumläuft – eine Frage, die wenig später auf recht grausame Weise beantwortet wird…

Eine Morddrohung aus der Vergangenheit – der 2. Fall für Huldar und Freyja

Die Isländerin Yrsa Sigurðardóttir ist seit Jahren als Krimi- und Thriller-Autorin sehr erfolgreich und mit ihrer Reihe um die Anwältin Dóra Gudmundsdóttir sowie Standalone-Romanen wie z.B. der Gruselgeschichte „Geisterfjord“ regelmäßig in den internationalen Bestsellerlisten vertreten. Daher war es ein wenig überraschend, dass der zuletzt erschienene Serienauftakt „DNA“ mit ein paar Startschwierigkeiten zu kämpfen hatte und gerade die Hauptfiguren Huldar und Freyja etwas blass gerieten und sich nicht unbedingt als Protagonisten für weitere Bände  aufdrängten. Leider hat auch „Sog“ wieder mit den Charakteren zu kämpfen: diese bekommen diesmal zwar ein wenig mehr Profil, allerdings stimmt die Chemie zwischen Huldar und Freyja nach wie vor nicht und die Reibereien der beiden kosten nicht nur die Figuren, sondern auch die Leser Nerven – hier hat sich Sigurðardóttir mit den zusätzlichen privaten Verwicklungen nicht unbedingt einen Gefallen getan. Zudem wundert man sich immer wieder über seltsames Verhalten mancher Charaktere und Nebenkriegsschauplätze wie z.B. die Geschichte um Freyjas kriminellen Bruder hängen nach wie vor in der Luft und unterbrechen die Haupthandlung. Diese hingegen ist für sich genommen jedoch sehr gelungen und überzeugt vom rätselhaften Beginn mit dem beunruhigenden Zeitkapsel-Fund bis zum spannenden Finale, das wie schon der Vorgänger mit einer überraschenden Schlusspointe aufwartet. Grundsätzlich bietet also auch „Sog“ wieder packende Krimi-Unterhaltung, es bleibt nur zu wünschen, dass Sigurðardóttir ihre beiden Protagonisten langsam in den Griff bekommt und die Weichen für eine gemeinsame und harmonischere Zukunft stellen kann – wobei sich allerdings auch die Frage stellt, ob sich die Autorin mit ihrer Zusammenarbeit von Polizist und Kinderpsychologin in Bezug auf weitere Fälle inhaltlich nicht zu sehr eingeschränkt hat.

Autorin: Yrsa Sigurðardóttir | Originaltitel: Sogið | Umfang: 448 Seiten
Erscheinungsdatum: 18.9.2017 | Verlag: btb | Preis: Geb. Ausgabe 20,00 € / eBook 15,99 €

NEBELKIND von Emelie Schepp

Um uninteressante Protagonisten muss sich Emelie Schepp im Gegensatz zu Yrsa Sigurðardóttir keine Sorgen machen, dann ihr Reihenauftakt „Nebelkind“ kann unbestritten mit einer der ungewöhnlicheren Ermittlerinnen des Thriller-Genres aufwarten – dabei ist Jana Berzelius auf den ersten Blick eine relativ gewöhnliche, wenn auch vielleicht etwas verbissen und spießig wirkende junge Staatsanwältin, die in erster Linie für ihren Beruf lebt und alles andere ihrer Karriere unterordnet. Damit macht sie sich bei ihren Kollegen nicht unbedingt beliebt, auf soziale Kontakte oder gar Freundschaften hat Jana aber ohnehin nie viel Wert gelegt. So weit scheint Schepps Hauptfigur noch nicht besonders herauszustechen, doch das ändert sich, als die Staatsanwältin mit einem neuen Fall konfrontiert wird: der Leiter des Amtes für Migration wird in seinem Haus erschossen aufgefunden und bei der Spurensuche am Tatort finden sich Hinweise darauf, dass möglicherweise ein Kind in den Mord involviert ist – allerdings lebten das Opfer und seine Frau alleine. Als wenig später die Leiche eines Jungen entdeckt wird und dessen Fingerabdrücke zum Tatort passen scheint der Mörder gefunden – doch warum würde ein Kind einen Menschen töten und wieso musste der vermeintliche Täter ebenfalls sterben? Dann machen die Ermittler jedoch eine Entdeckung, die Janas Welt ins Wanken bringt und sie mit einem längst vergessenen Kapitel ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert…

Eine Staatsanwältin mit düsterer Vergangenheit und ohne Kompromisse

„Nebelkind“ erschien in Emelie Schepps schwedischer Heimat ursprünglich im Selbstverlag und wurde dann zum gefeierten Bestseller und in mehrere Länder verkauft. Doch damit nicht genug, denn die Autorin wurde zusätzlich mit dem Crimetime Specsavers Award als beste Spannungsautorin Schwedens ausgezeichnet – was bei der großen Konkurrenz im eigenen Land durchaus Aussagekraft besitzt. So überrascht es dann auch nicht, dass die Geschichte nur wenige Seiten benötigt, um Spannung aufzubauen und schon nach kurzer Seite eine Sogwirkung entwickelt, die einen ans Buch fesselt. Schepp vermischt den Fall um den ermordeten Amtsleiter dabei geschickt mit rätselhaften und dramatischen Rückblenden, welche schnell eine sehr düstere Grundstimmung erzeugen. Man kann zwar recht früh erahnen, welche persönliche Verbindung Staatsanwältin Jana Berzelius zu dem Fall hat, das tut der Dramatik aber keinen Abbruch – im Gegenteil, denn zum einen lässt die vollständige Aufklärung der genauen Zusammenhänge bis zum Ende des Buches auf sich warten, zum anderen bringt die Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit die Protagonistin in eine absolute Ausnahmesituation, aus der es kaum ein Entrinnen gibt und welche Jana zu drastischen und teilweise wirklich schockierenden Maßnahmen treibt. Dieses Spiel mit moralischen und zum Teil sogar gesetzlichen Grenzen macht „Nebelkind“ so spannend und Jana Berzelius zu so einer interessanten Persönlichkeit, die zwar im Laufe der Geschichte nicht unbedingt zur Sympathieträgerin wird (womit sich auch die anderen Charaktere wie z.B. die nervige Polizistin Mia schwer tun), aber viel Potenzial mitbringt, um auch über diesen Auftaktband hinaus eine Thriller-Reihe zu tragen. „Nebelkind“ macht jedenfalls trotz kleinerer Schwächen wie der manchmal etwas zu konstruiert wirkenden Story Lust auf mehr und man darf gespannt sein, wohin die Reise für Emelie Schepps unkonventionelle Heldin hinführt.

Autorin: Emelie Schepp | Originaltitel: Märkta för livet | Umfang: 448 Seiten
Erscheinungsdatum: 17
.8.2015 | Verlag: Blanvalet | Preis: Taschenbuch 9,99 € / eBook 8,99 €

VERFOLGUNG von David Lagercrantz

Es ist vielleicht DAS Markenzeichen einer der wohl ungewöhnlichsten und bemerkenswertesten Charaktere im Thriller-Genre, dennoch war es auch nach vier Büchern immer noch ein Mysterium: das überdimensionale Drachen-Tattoo auf dem Rücken von Lisbeth Salander, der Kult-Hackerin aus Stieg Larssons unglaublich erfolgreicher „Millennium“-Reihe – dabei gab eben jene Tätowierung dem ersten Band in der englischen Fassung sogar seinen Namen („The Girl With The Dragon Tattoo“). Was der Schöpfer der Geschichten sich tatsächlich zu diesem Tattoo und seiner Bedeutung gedacht hat, wird nach dem viel zu frühen Tod Stieg Larssons vielleicht immer ein Rätsel bleiben, sein Landsmann und Nachfolger David Lagercrantz hat sich für seinen zweiten Millennium-Roman nach „Verschwörung“ aber genau diese Frage nach der Entstehung und dem Sinn des Drachenmotivs gestellt und diese zum Aufhänger für den insgesamt bereits fünften gemeinsamen Fall des Duos Lisbeth Salander/Mikael Blomkvist gemacht. Dieser beginnt für Lisbeth zunächst einmal in der Frauenhaftanstalt Flodberga, wo sie nach den Ereignissen von „Verschwörung“ ihre mehr oder weniger gerechte Strafe absitzt und versucht, während ihres Aufenthalts der unangefochtenen Gefängnis-Tyrannin Benito Andersson und ihrer Gang aus dem Weg zu gehen – und wer die Millennium-Reihe kennt weiß, dass Konfliktvermeidung nicht unbedingt Lisbeths größte Stärke ist und die Situation in Flodberga schnell aus dem Ruder läuft… Zeitgleich stößt ihr langjähriger Vormund und Vertrauter, der Rechtsanwalt Holger Palmgren, auf neue Unterlagen über Lisbeths Kindheit, welche neue Erkenntnisse über den an ihr verübten Missbrauch durch die schwedischen Behörden liefern. Daraufhin beauftragt Lisbeth aufgrund der ihr im Gefängnis fehlender Ressourcen Mikael Blomkvist mit weiteren Nachforschungen – und stößt damit in ein Wespennest, das alle Beteiligten (wieder einmal) in große Gefahr bringt…

Der 2. Millennium-Fall von David Lagercrantz – ein würdiger Erbe Stieg Larssons?

Der Einstieg in „Verfolgung“ fühlt sich zugegeben etwas willkürlich an – gerade was die Einbeziehung von Mikael Blomkvist betrifft –, trotzdem legt Lagercrantz im neuen „Millennium“-Band einen guten und unmittelbar interessanten Start hin, was vor allem daran liegt, dass Lisbeth Salander gerade im Vergleich zum Vorgängerroman sofort von Anfang an mitmischen darf und sich direkt in einer prekären Situation wiederfindet. Was sich ebenfalls früh bemerkbar macht, ist das veränderte Erzähltempo: Während „Verschwörung“ noch den Eindruck erweckte, dass Lagercrantz den Fokus etwas mehr auf Action und eine straffere Geschichte legen würde, so nähert sich der Larsson-Nachfolger bei seinem zweiten Einsatz wieder spürbar den Wurzeln der „Millennium“-Reihe an und besinnt sich auf eine ihrer großen Stärken, nämlich die detaillierte Recherche. So darf vor allem Blomkvist wieder verstärkt seine journalistischen Fähigkeiten einsetzen und die dunklen Geheimnisse der Beteiligten ausgraben. Konnte man beim vierten Band noch deutlich die unterschiedlichen Stile der Autoren Stieg Larsson und David Lagercrantz feststellen, so fühlt sich „Verfolgung“ nun wieder fast wie die ursprüngliche Trilogie an. Lagercrantz erreicht zwar bei der Story nicht ganz die Komplexität seines Vorgängers, zieht die Geschichte aber gekonnt über mehrere Handlungsstränge auf, die zusammen ein schlüssiges und vor allem spannendes Gesamtbild ergeben. Erfreulich ist auch, dass nicht nur viele der bekannten Charaktere wieder mit dabei sind, sondern auch dass der Autor sich die Zeit nimmt, diese weiter auszuarbeiten und es nicht nur bei Larssons Charakterisierungen belässt – siehe z.B. das eingangs schon thematisierte Drachentattoo auf Lisbeths Rücken. Rückblickend bekommt man daher ein wenig den Eindruck, dass David Lagercrantz beim vierten Band vielleicht noch nicht zu viel riskieren wollte und für seine Übernahme der Reihe lieber einen eher simpel gestrickten, aber soliden Einstieg gewählt hat, mit „Verfolgung“ aber endgültig im „Millennium“-Universum angekommen ist. Und da die Geschichte um Lisbeth Salander und Mikael Blomkvist offensichtlich noch längst nicht zu Ende erzählt ist, dürfen „Millennium“-Fans der Zukunft erwartungsvoll und optimistisch entgegenblicken – bei David Lagercrantz ist die Reihe augenscheinlich in guten Händen.

Autor: David Lagercrantz | Originaltitel: Mannen som sökte sin skugga | Umfang: 480 Seiten
Erscheinungsdatum: 7.9.2017 | Verlag: Heyne | Preis: Geb. Ausgabe 22,99 €/eBook 18,99 €

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Wie steht ihr zur Fortführung der Millennium-Reihe durch einen anderen Autor?

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3 Antworten zu diesem Beitrag

  • Von Maraia am 14. Feb 2018 um 17:09

    Gut zusammengefasst! “Verfolgung” war auf jeden Fall am besten von den drei. Ich freue mich schon auf den nächsten Band. Weißt du, wie viele geplant sind?
    “Sog” ist nicht schlecht, ich wünsche mir nur, dass sie Figuren nicht so dumm wären. xD

    • Danke! 🙂

      Ich glaube ich habe vor Jahren mal gelesen dass die Reihe von Stieg Larsson ursprünglich mal auf 10 Bücher angelegt war, weiß aber nicht ob das mit David Lagercrantz immer noch geplant ist. Wenn die Qualität so bleibt kann es von mir aus gerne noch lange so weitergehen 🙂

      Ja, Huldar und Freyja sind wirklich alles andere als meine Lieblingsfiguren, ich bin mal gespannt ob es mit den beiden irgendwann noch besser wird 😀