Der Kinderdieb_Rezi

Für Nick ist jeder Tag ein Kampf: Seine Mutter kümmert sich schon lange nicht mehr um ihn, die Wohnung der zerrütteten Familie wird von einem Drogendealer und seiner Gefolgschaft besetzt und in den Straßen New Yorks läuft der Junge immer wieder Gefahr, in eine Konfrontation mit schlimmem Ausgang zu geraten – so auch als Nick dem Dealer eins auswischen will und mit einer seiner Lieferungen abhaut. Als dessen Schläger ihn nach kurzer Zeit einholen scheint Nicks letztes Stündlein geschlagen, doch in letzter Not kommt ihm plötzlich ein seltsam aussehender Junge mit spitzen Ohren zur Hilfe, der Nicks Angreifer in die Flucht schlägt. Doch damit nicht genug, denn Peter bietet dem erleichterten Jungen auch noch an, ihn von seinem elenden Dasein zu befreien und an einen schöneren Ort voller Abenteuer zu bringen. Nick ist zunächst skeptisch, lässt sich von seinem Retter aber schließlich überreden – und landet wenig später in einem Reich voller Magie, das aber noch schrecklicher ist als sein Leben auf den Straßen New Yorks…

Der Klassiker „Peter Pan“ in der düsteren Erwachsenen-Variante

Mit den Geschichten um den Jungen Peter Pan hat der Autor James Matthew Barrie Anfang des 20. Jahrhunderts einen Klassiker der Literatur geschaffen, der sich auch dank zahlreicher Verfilmungen auch heute noch großer Beliebtheit erfreut. Der Illustrator und Autor Gerald Brom nahm Barries Helden zwar als Grundlage für seinen Roman „Der Kinderdieb“, mit dem bekannten Kinderbuch hat sein Werk aber abgesehen von der Titelfigur kaum etwas gemeinsam. Gerade wer Peter Pan nur aus dem Disneyklassiker kennt wird sich wohl schon nach wenigen Minuten die Augen reiben und sich wie im falschen Film vorkommen. Denn bereits der Prolog schockt mit dem beschriebenen Missbrauch eines Mädchens durch ihren Stiefvater, der plötzlich von einem Jungen überrascht und gnadenlos abgestochen wird. Und dieser eiskalte Rächer ist niemand anderes als Broms Version des Peter Pan, der in New York offenbar gezielt nach menschlichen Abgründen sucht und immer wieder Kinder aus ihrem täglichen Albtraum befreit. Was nach glorreicher Heldentat klingt, bekommt aber schnell einen mehr als faden Beigeschmack, wenn man erfährt, was Peter mit den geretteten Kindern vorhat. Er verspricht ihnen zwar ein sorgenfreies Leben und Abenteuer, lockt sie aber hinterhältig in das Reich Avalon – einen Ort voller Magie und fantastischer Wesen, aber auch voller Gewalt und Brutalität. Denn Avalon steht vor der Zerstörung durch grausame „Menschenfresser“, und Peter rekrutiert die entführten Kinder zu einer wahren Armee, um seine Heimat vor dem Untergang zu retten – und ist scheinbar bereit, dafür jeden noch so teuren Preis zu bezahlen.

Ein dreckiges Abenteuer voller Gewalt und Brutalität

Wer sich ähnlich wie die gestohlenen kleinen „Teufel“ von der Aussicht auf ein magisches Fantasy-Abenteuer hat verführen lassen und eine Peter-Pan-Adaption im Stil der Originalvorlage Barries erwartet hat, wird vermutlich auf eine von zwei Arten auf Broms Geschichte reagieren: Entweder man lässt sich von dem düsteren Charakter der Geschichte mitreißen und von der verstörenden Anziehungskraft Avalons gefangennehmen – oder man wendet sich schon früh angewidert von dem Werk ab. Denn die intensive Atmosphäre hat einen hohen Preis, wird sie doch in erster Linie durch ein enormes Maß an Brutalität erzeugt. Wer vom schwer verdaulichen Prolog schon geschockt war, sollte das Buch besser schnell beiseite legen, denn kaum enden wollende Schlachten mit teilweise sehr drastischen Gewaltdarstellungen legen in dieser Hinsicht noch einmal eine gute Portion drauf – vor allem da es sich bei den Beteiligten in erster Linie um Kinder handelt, die sich teilweise sogar gegenseitig auf die unterschiedlichsten Weisen verstümmeln. Mir hat diese klar auf ein erwachsenes Publikum ausgerichtete Interpretation der Peter-Pan-Geschichte grundsätzlich zwar gut gefallen, allerdings kommt durch den sehr hohen Action-Anteil vor allem in der Mitte des Romans die Story doch häufig deutlich zu kurz. Denn auch wenn Brom immer wieder Hintergrundinformationen über die jahrhundertealte Geschichte Avalons und seiner Kreaturen einstreut, im Prinzip besteht mindestens die Hälfte des Buches aus blutigem Gemetzel, was auf Dauer ein wenig ermüdend werden kann.

Atmosphärische Fantasy-Action mit manchmal etwas wenig Story

Auf den packenden Beginn folgt also ein etwas einseitiger Mittelteil, glücklicherweise besinnt sich Brom zum Ende hin wieder auf den Plot und legt trotz nach wie vor reichlicher Action einen spannenden und dramatischen Schlussakt hin, sodass „Der Kinderdieb“ letztlich doch einen guten Gesamteindruck hinterlässt – nicht zuletzt wegen der wieder einmal sehr eindringlichen und stimmungsvollen Lesung von Uve Teschner, dem solch düstere Stoffe einfach zu liegen scheinen. Grundidee für meinen Geschmack hervorragend, Umsetzung jedoch nicht immer ganz gelungen, Atmosphäre top, Charaktere zwar vielseitig aber nicht mit dem ganz großen Identifikationsfaktor – Broms brutale und dreckige Adaption von Barries Kinderbuch-Klassiker vermag grundsätzlich zu fesseln, hätte meiner Meinung nach aber etwas mehr Wert auf eine tiefergehende Story legen können, die für mich zwischen dem permanenten Abschlachten ein wenig zu kurz kommt. Für Freunde düsterer Fantasy-Werke ist „Der Kinderdieb“ aber auf jeden Fall eine Empfehlung wert.

Der Kinderdieb
  • Autor:
  • Sprecher: Uve Teschner
  • Original Titel: The Child Thief
  • Länge: 19 Std. 13 Min. (ungekürzt)
  • Verlag: Audible GmbH
  • Erscheinungsdatum: 12. Dezember 2012
  • Preis 29,95 € (9,95 € im Audible-Flexi-Abo)
Charaktere:
Story:
Atmosphäre:
Sprecher:
Gesamt:
7/10
Fazit:
Der Fantasy-Künstler Brom liefert mit „Der Kinderdieb“ eine sehr atmosphärische und brutale Adaption des Peter-Plan-Klassikers, vergisst bei all der drastischen Action aber manchmal ein wenig zu sehr die eigentliche Story.

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4 Antworten zu diesem Beitrag

  • Habe das Buch vor einigen Jahren gelesen und war zunächst zu meiner Überraschung, wie du auch andeutest, geschockt wie explizit die Kämpfe umschrieben wurden. Da quollen Gedärme raus und es flogen Körperteile umher. Sind ja auch alles noch sehr junge Figuren. Auf düster war ich eingestellt, aber das…heftig.
    Da die erste Ausgabe noch bei PAN erschienen ist, habe ich mir so viel Härte nicht vorgestellt. Aber ich mochte die Grundidee und habe insbesondere die Illustrationen von BROM geliebt.

    • Ich fand das Düstere ja auch super und hatte auch nichts gegen das Gemetzel an sich, aber das war hier ja teilweise so viel Action dass die Story zwischendurch überhaupt nicht vorwärts gekommen ist.

      Wie waren denn die Illustrationen? Auch so explizit?^^