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Jedes Jahr treffen sich drei Vorzeigemänner aus der gutbürgerlichen Mittelschicht Amerikas zu einem gemeinsamen Jagdausflug – einem Trip, bei dem das Trio alles andere als wilde Tiere im Visier hat…

Amerika in den 1950er Jahren: Die 18-jährige Alicia Rennick ist soeben Opfer einer Vergewaltigung geworden und sitzt mit ihren Eltern vor dem Bezirksstaatsanwalt, um das Verbrechen zur Anzeige zu bringen. Zu ihrer aller Entsetzen hat dieser jedoch keinerlei Interesse an einer Strafverfolgung, sondern macht den Rennicks trotz deutlicher Missbrauchsspuren am Körper des Mädchens keine Hoffnung auf eine Überführung der Täter. Schließlich gehören Greg Anderson, Ken Frazer und Art Wallace, die mutmaßlichen Vergewaltiger, zur Elite der amerikanischen Jugend: allesamt attraktive junge Männer aus absoluten Vorzeigefamilien und am College unter den besten Studenten. Niemand, so der Bezirksstaatsanwalt, werde in diesem Fall einem durchschnittlichen Mädchen wie Alicia Glauben schenken, sodass ein möglicher Prozess eine reine Vorführung des Opfers wäre und sich die Schülerin womöglich am Ende noch selbst wegen Verleumdung verantworten müsse. Folglich verzichten die Eltern auf eine Anzeige und die drei Studenten kommen ungeschoren davon.

Drei amerikanische Vorzeigeehemänner und ihr blutiges Ritual

Rund 20 Jahre später haben Greg, Ken und Art die prognostizierte erfolgreiche Laufbahn eingeschlagen und zählen zur gehobenen Mittelschicht Amerikas – mit einem lukrativen Job, einem schönen Haus in guter Wohngegend und nach außen hin perfekten Familien. Einmal im Jahr treffen sich die drei Freunde jedoch zu einem gemeinsamen Ausflug und toben sich fernab von Ehefrauen und Alltagsstress einmal so richtig aus: In den dichten Wäldern Michigans gehen die Männer auf die Jagd. Allerdings stehen keine wilden Tiere auf ihrer Abschussliste, sondern fremde Paare, die nicht ahnen, dass in der idylischen Natur das nackte Grauen auf sie wartet…

Ein vierzig Jahre alter Roman mit unverminderter Sprengkraft

„Jagdzeit“ – oder „Open season“, wie David Osborns Roman im englischen Original heißt – ist kein aktueller Thriller, sondern erschien bereits 1974 und wurde wenig später bereits u.a. mit Peter Fonda verfilmt. Dass das Buch aber auch fast vierzig Jahre nach seiner Veröffentlichung nicht an Sprengkraft verloren hat, zeigt bereits der verstörende Prolog, der die eingangs erwähnte Vergewaltigung der 18-jährigen Alicia Rennick thematisiert. Je mehr Worte dieses Romaneinstiegs man liest, desto schwerer fällt es, die Fassung zu wahren, denn Osborn schildert einen schier unfassbaren Vorgang, der wahrlich wütend macht. Statt dem sichtlich gezeichneten Mädchen Unterstützung zukommenzulassen, wird das wehrlose Opfer fast schon in die Täterrolle gedrängt und mit der Androhung einer Anklage wegen Verführung Minderjähriger (weil einer der Täter (!) zum Zeitpunkt der Vergewaltigung unter 21 Jahre alt war) dermaßen eingeschüchtert, dass der Vorfall schließlich stillschweigend unter den Teppich gekehrt wird.

Wer durch den anschließenden Zeitsprung in die 1970er Jahre hofft, das verachtenswerte Gespann Ken, Greg und Art hinter sich gelassen zu haben, wird jedoch enttäuscht. Die drei stehen in der Blüte ihrer Jahre und befinden sich gerade im Aufbruch zu ihrem jährlichen Jagdausflug, um dort ein bisschen „Große-Jungs-Spaß“ zu haben, was beim Leser bereits für ungute Vorahnungen sorgt – die sich leider nur wenig später bewahrheiten sollen…

Menschenjagd als „Große-Jungs-Spaß“

Es fällt nicht leicht, die anschließende Geschichte angemessen einzuordnen, dafür ist David Osborns kompromissloser Thriller eindeutig zu unbequem. Wer beim Lesen eines Buches Charaktere braucht, mit denen er sich identifizieren kann, der sollte um „Jagdzeit“ am besten einen ganz großen Bogen machen – denn sollte jemand auch nur eine einzige Figur (mit Ausnahme des nur im Prolog auftretenden Vergewaltigungsopfers) annähernd sympathisch finden, würde ich mir ernsthaft Sorgen um den Geisteszustand dieses Lesers machen. Dass die drei Jäger mit ihrem Verhalten nichts als Abscheu und Verachtung verdienen, dürfte bereits klar geworden sein, doch auch ihre „Beute“ kommt in der Geschichte nicht besonders gut weg, ohne an dieser Stelle mehr verraten zu wollen. Weibliche Leser dürften es vermutlich noch einmal etwas schwerer haben, sich mit Osborns Geschichte anzufreunden, denn das in „Jagdzeit“ vermittelte Frauenbild ist moralisch doch höchst bedenklich – im Klartext müssen die weiblichen Charaktere als rechtelose Lustobjekte herhalten, die rein zur Befriedigung der männlichen Gelüste existieren. Das mag eine bewusste Provokation des Autors sein, mir sind die daraus resultierenden Passagen aber teilweise sehr übel aufgestoßen.

Kompromisslos, unangenehm, bedenklich

Man muss David Osborn aber zu Gute halten, dass er die von ihm eingeschlagene Richtung konsequent über die gesamte Dauer der Handlung beibehält. Das Buch bleibt bösartig, skrupellos und brutal und geizt auch nicht mit sexueller Gewalt – ob man das nun wirklich lesen will, muss jeder Leser für sich selbst entscheiden. Abgesehen von den angesprochenen moralischen Grenzgängen ist die Story aber meist spannend und kurzweilig, sodass zumindest Langeweile auf keinen Fall aufkommen sollte. Aufgrund meines zwiegespaltenen Eindrucks von diesem Buch habe ich nach der Lektüre mal ein paar Kritikermeinungen zu diesem Buch gelesen, in denen „Jagdzeit“ häufig als „große Literatur“ gefeiert wurde. Ob man einen derartigen Roman allein aufgrund des schonungslosen Umgangs mit vermeintlichen Tabuthemen so bezeichnen kann, lasse ich aber mal dahingestellt. In meinen Augen ist Osborns Werk einfach ein solider und über weite Strecken durchaus packender Thriller, der für meinen Geschmack jedoch manchmal einfach zu weit geht und Respekt und Moral fast völlig vermissen lässt…

Fazit:
Spannender, aber moralisch höchst fragwürdiger Thriller, der seine schonungslose Linie aber kompromisslos durchzieht (6/10).

Buchcover
Autor: David Osborn; Originaltitel: Open season; Umfang: 280 Seiten; Verlag: Pendragon; Erscheinungsdatum: 07. Februar 2011; Preis: Taschenbuch 10,95 €/eBook 8,99 €.

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