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Ein junges Mädchen wurde von einem 12-Jährigen brutal ermordet. Ist der Junge ein kaltblütiger Killer oder nur ein Opfer seiner Lebensumstände?

Ein grausamer Mord sorgt in Exeter im Südwesten Englands für Entsetzen: Die 11-jährige Felicity wurde zunächst missbraucht und anschließend ertränkt. Umso unfassbarer ist die Tat, als sie von einem Mörder begangen wurde, der nur unwesentlich älter ist als das Opfer: dem 12-jährigen Daniel Blake. Die Öffentlichkeit reagiert wütend und ungläubig auf eine solche Brutalität und so ist der Mord und seine Folgen wochenlang das Hauptthema in der landesweiten Berichterstattung.

Ein Anwalt muss einen 12-jährigen Mörder verteidigen

Für einen Mann ist der Fall Daniel Blake jedoch ein absoluter Gewinn: Der Anwalt Leo Curtice kann sein Glück kaum fassen, dass ausgerechnet er die Pflichtverteidigung des Jungen übernehmen soll – und das nur, weil er zum richtigen Moment das Telefon abgehoben hat. Für den aufstrebenden Leo ist das Mandat die erste große Bewährungsprobe und könnte bei einer erfolgreichen Ausführung einen erheblichen Karrieresprung auslösen. Folglich stürzt er sich mit vollem Einsatz in die Arbeit – und ahnt nicht, welche Folgen der Fall für ihn und seine Familie haben wird…

Eher Kriminaldrama statt Thriller

„Das Kind, das tötet“ – so reißerisch lautet der Titel von Simon Lelics neuem Roman, der auf einen rasanten und deftigen Thriller schließen lässt. Mit dieser Einschätzung liegt man jedoch falsch, denn trotz des plakativen Buchtitels verbirgt sich hinter Lelics zweitem Werk ein vielschichtiges Kriminaldrama, das deutlich mehr zu bieten hat als es auf den ersten Blick den Anschein hat.

Der Fall Blake: Karrieresprung oder Belastung?

Dabei beginnt zunächst alles wie erwartet: Wir machen Bekanntschaft mit Leo Curtice, einem bisher nur mäßig erfolgreichen Anwalt im mittleren Alter, der eher zufällig mitten in den spektakulärsten Fall der letzten Jahre hineingerät. Weil er zum Zeitpunkt des verhängnisvollen Anrufs anlässlich der Pflichtverteidigung der einzige Anwalt im Büro der Kanzlei war, wird ausgerechnet er mit dem Mandat des 12-jährigen Mörders beauftragt. Curtice ist sich der Bedeutung des Falls sofort bewusst und genießt die ihm zuteil werdende Aufmerksamkeit und die Bewunderung der Kollegen und wird nicht müde, die Umstände seines Auftrages immer wieder aufs Neue zu erzählen. Diese Prahlerei sorgt nicht unbedingt für einen grundsympathischen ersten Eindruck von der Hauptfigur des Romans, doch glücklicherweise zeigt Leo im weiteren Verlauf der Geschichte ein anderes Gesicht und legt ein deutlich bescheideneres Auftreten an den Tag.

Mit Annahme des Mandats erkennt Curtice nämlich auch, welche Auswirkungen dieser Fall auch auf sein privates Leben haben kann. Da der Fall im Fokus der breiten Öffentlichkeit steht, wird natürlich auch seine Pflichtverteidigung kritisch beäugt – und da die Medien und das direkte Umfeld voller Wut und Hass auf den Täter sind, schlägt sich dies so auch auf den Anwalt nieder. Besonders für Leos Frau und die gemeinsame 15-jährige Tochter bedeutet dies eine große Belastung, zumal sie das Verhalten ihres Ehemannes und Vaters nicht unbedingt nachvollziehen können. Es lastet also ein enormer Druck auf Curtice und er muss zeigen, ob er dieser Belastung gewachsen ist und sich mit dem Fall nicht etwa übernommen hat.

Wer trägt die Schuld an einer solchen Tragödie?

Ein wenig überraschend spielt die eigentliche Tat Daniel Blakes in der Handlund eine eher untergeordnete Rolle, sodass man als Leser fast schon beiläufig über neue Entwicklungen informiert wird. Dadurch, dass Daniels Täterschaft von Anfang an unstrittig ist, geht es in „Das Kind, das tötet“ vielmehr um die Frage, inwieweit ein Kind schon Verantwortung für sein Handeln übernehmen kann. Ist der 12-Jährige wirklich ein brutales Monster und das personifizierte Böse, oder ist er vielleicht selbst ein Opfer, das durch seine schwierigen Lebensumstände nie eine faire Chance hatte? Steht ihm überhaupt eine gewissenhafte Verteidigung zu oder hat er das Recht darauf durch seine grausame Tat verwirkt? Und wer trägt wirklich die Schuld für den tragischen Tod von Felicity? Simon Lelic wirft hier viele interessante Fragen auf und geht mit seiner Geschichte auch dahin, wo es wehtut. Sein Roman ist ein unangenehmes Buch und beschäftigt sich mit brisanten und stellenweise auch schwer verdaulichen Themen, ohne dabei jedoch klar Partei für eine der dargestellten Seiten zu ergreifen. Der Autor überlässt es stattdessen in weiten Teilen seinen Lesern, Antworten auf die Fragen nach Schuld, Verantwortung und Moral zu finden – was keinesfalls immer leicht ist.

Im Schlussdrittel mit Schwächen in der Story

So faszinierend diese Auseinandersetzung auch ist, so ist Lelics „Das Kind, das tötet“ leider aber auch nicht ohne Schwächen. Gerade in der zweiten Hälfte werden einige Entwicklungen viel zu sprunghaft geschildert, sodass ich stellenweise das Gefühl hatte, ich hätte zuvor etwas wichtiges verpasst. Lelic läuft in diesen Momenten immer wieder Gefahr, den roten Faden zu verlieren und wirkt manchmal auch unentschlossen, in welche Richtung sich die Geschichte entwickeln soll. Hier wirkt die Story zum Teil nicht ganz ausgereift, was vor allem für das doch ein wenig unbefriedigende Ende gilt.

Eine echte Sprecher-Neuentdeckung

Eine uneingeschränkt positive Überraschung ist aber Sprecher Jan Uplegger, der mit diesem Buch sein allererstes Hörbuch überhaupt eingesprochen hat. Warum noch niemand eher auf die Idee gekommen ist, ihn als Sprecher für derartige Titel zu verpflichten, bleibt mir bei dieser grandiosen Lesung ein Rätsel. Uplegger liest nicht nur sehr nuanciert und trifft genau den richtigen Ton, sondern verfügt auch über eine sehr vielfältige Stimme, die stellenweise sogar ein wenig an Stefan Kaminski erinnert. Für diese beeindruckende Vorstellung gibt es dann von mir auch noch einen Extra-Punkt auf die Wertung, denn ich bin immer noch begeistert und freue mich schon auf weitere Hörbücher mit diesem Sprecher.

Fazit:
Unangenehmes Kriminaldrama, das eine interessante Diskussion über Schuld und Verantwortung anstößt, im Schlussdrittel jedoch ein wenig den Faden verliert. Die grandiose Sprecher-Neuentdeckung reißt dies aber zum Teil wieder heraus (8/10).

Hörbuchcover
Autor: Simon Lelic; Sprecher: Jan Uplegger; Originaltitel: The Child Who; Spieldauer: 09 Std. 07 Minuten (ungekürzt); Anbieter: Audible GmbH, Deutschland; Veröffentlicht: 2013; Preis: 20,95 €.

Link zum Hörbuch

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